Gebäude der EU-Kommission in Brüssel
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Der Einfluss der EU auf deutsche Gesetze ist groß, ihn an einem Prozentsatz festzumachen aber schwierig.

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#Faktenfuchs: Wie groß ist der EU-Einfluss auf deutsche Gesetze?

Im Netz behaupten einige, dass zwei Drittel der deutschen Gesetze auf Vorgaben der Europäischen Union zurückgehen. Der Einfluss der EU ist zwar groß, ihn an einem konkreten Prozentsatz festzumachen, ist aber nicht so einfach. Ein #Faktenfuchs.

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Darum geht's:

  • Der Einfluss der EU auf deutsche Gesetze ist laut Experten groß, unterscheidet sich aber je nach Themengebiet
  • Ohne Belege oder Quellen wird im Netz gelegentlich behauptet, zwei Drittel der deutschen Gesetze gingen auf EU-Vorgaben zurück
  • Die aktuelle Datenlage dazu ist dünn, offizielle Zahlen gibt es nicht. Berechnungen unterliegen zahlreichen Einschränkungen und haben eine begrenzte Aussagekraft
  • Die Mitgliedstaaten arbeiten aktiv an der Entstehung der EU-Vorgaben mit, die sie letztlich national umsetzen

Im Vorfeld der EU-Wahl wird viel über die Bedeutung der Europäischen Union diskutiert – und über ihren Einfluss auf unsere Gesetze in Deutschland. Sowohl Fans als auch Kritiker der EU verwenden dabei manchmal Prozentzahlen, deren Zustandekommen allerdings unklar ist.

So finden sich in den sozialen Netzwerken immer wieder Posts, in denen User behaupten, zwei Drittel der deutschen Gesetze gingen auf Vorgaben der Europäischen Union zurück. Manchmal ist auch von anderen, höheren Anteilen die Rede.

Wer versucht, im Netz eine Quelle für diese Zahl zu finden, landet schnell auf der Seite der Bundesregierung. Unter der Überschrift "Europapolitik der Bundesregierung" [externer Link] heißt es: "Zweidrittel der Gesetze gehen inzwischen auf die Gesetzgebung der Europäischen Union zurück."

Einfluss der EU auf deutsche Gesetze: Keine offizielle Quelle für Prozentzahlen

Auf welche Berechnung stützt sich diese Angabe? Auf #Faktenfuchs-Anfrage teilt das Bundespresseamt telefonisch mit, dass es keine einzelne Quelle gebe, es handele sich um eine Annäherung auf Basis unterschiedlicher Erkenntnisse.

Eine davon ist ein wissenschaftliches Gutachten der Fernuni Hagen [externer Link] aus dem Jahr 2014, das die Europäisierung der deutschen Gesetzgebung im Zeitraum 2005 bis 2013 untersucht. Berechnet wurde der Anteil derjenigen deutschen Gesetze, die europäische Vorgaben umsetzen, im Verhältnis zu den jeweils insgesamt verabschiedeten Gesetzen.

Die Untersuchung kam zu sehr unterschiedlichen Werten: von eher niedrigen Zahlen im Bereich bis zu zwanzig Prozent bei den Sachgebieten Sozialpolitik oder Finanzen und Steuern, bis zu höheren Anteilen, etwa in den Bereichen Verkehr oder Landwirtschaft. Dort lag der Anteil bei rund 50 bis 60 Prozent. Die Zahlen sind jedoch – wie gesagt – bis zu fast 20 Jahre alt und ein Gesamtwert von zwei Dritteln findet sich nicht.

Bundestag führt keine Statistik mehr

Die Daten für diese Berechnungen bezog die Fernuni Hagen direkt vom Dokumentations- und Informationssystem (DIP) des Deutschen Bundestages. Doch die Daten sind eben mehr als zehn Jahre alt – und mittlerweile gibt es diese Statistik nicht mehr, teilt eine Sprecherin des Bundestags dem #Faktenfuchs mit. Fragen nach der Umsetzung von EU-Vorgaben ließen sich mit den vom DIP erfassten Daten "nicht zuverlässig beantworten".

Das liege "in erster Linie daran, dass nicht jeder Gesetz- oder Verordnungsentwurf, der auf einen 'europäischen Impuls' (z. B. eine Richtlinie, Verordnung oder eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes) zurückgeht, einen entsprechenden Hinweis enthält", heißt es in der Antwort an den #Faktenfuchs.

Außerdem würden "viele Rechtsverordnungen ohne Mitwirkung des Bundestages oder des Bundesrates erlassen werden und daher nicht in die Datenbank einfließen".

Für die zwei Drittel der Gesetze, von der die Bundesregierung auf ihrer Webseite spricht und die auch in sozialen Netzwerken auftauchen, gibt es also keinen Beleg. Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht – und überhaupt auf Zahlen zu kommen, ist mit vielen Einschränkungen verbunden. Deren Aussagekraft ist deshalb begrenzt.

Politikwissenschaftler untersucht EU-Einfluss auf nationale Gesetze

Der Politikwissenschaftler Thomas König von der Universität Mannheim befasst sich mit der Erforschung des EU-Einflusses auf die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten [externer Link]. Auch er versucht seit vielen Jahren anhand von allen in den Bundestag eingebrachten Gesetze zu zeigen, wie groß der Einfluss der EU auf die deutsche Gesetzgebung ist.

Seit es den unmittelbaren Hinweis auf einen EU-Impuls in den Daten des Bundestags nicht mehr gibt, versuchen König und sein Team die Gesetzestexte mittels künstlicher Intelligenz zu durchsuchen und dabei festzustellen, ob ein Gesetz mit einer Vorgabe seitens der EU begründet wird. Laut König komme man dabei aktuell auf einen Anteil von etwa 40 bis 50 Prozent der deutschen Gesetze, die EU-Vorgaben umsetzen.

Mitgliedstaaten arbeiten auf EU-Ebene selbst an Gesetzen und Vorgaben mit

Solche Zahlen unterliegen jedoch zahlreichen Einschränkungen und ihre Aussagekraft zur Europäisierung der deutschen Gesetzgebung ist begrenzt – das sagen neben der Sprecherin des Bundestages auch Wissenschaftler wie König oder die Gutachtenautorin Annette Elisabeth Töller der Fernuni Hagen selbst.

Ein zentraler Aspekt dabei ist: Die Mitgliedstaaten arbeiten auf EU-Ebene selbst an der Entstehung und den Inhalten der Gesetze mit. Im erwähnten Gutachten der Fernuni Hagen heißt es:

"Es wäre also deutlich zu einfach, die Mitgliedstaaten als passive Empfänger des europäischen Rechts zu verstehen. Die mitgliedstaatlichen Regierungen, aber auch die nationalen Parlamente, die Bundesländer und nicht zuletzt die Abgeordneten im Europäischen Parlament, die ja zunehmend in ihren nationalen Parteien verwurzelt sind, ebenso wie nationale Firmen und Verbände sind alle in Brüssel an der Entstehung europäischen Rechts beteiligt."

Das sieht auch der Politikwissenschaftler Thomas König so. "Man kann nicht so eindeutig sagen: Ein Gesetz kommt immer von der EU, 'von oben', und fällt runter, sondern manches kommt auch von unten und fällt hoch".

Denn EU-Gesetze werden von der Kommission [externer Link] eingebracht. Diese wiederum besteht aus Vertretern der Mitgliedstaaten. Im Rat der Europäischen Union [externer Link] kommen die jeweiligen Minister der Mitgliedsländer zusammen, um etwa Rechtsvorschriften mehrheitlich zu verabschieden.

Gesetzgebung auf EU-Ebene politischen Gestaltungsspielraum für Politiker der Mitgliedstaaten

Daran wird deutlich: Die Regierungen der Mitgliedstaaten spielen in der EU-Gesetzgebung eine bedeutende Rolle. Das lässt sich bei der reinen Quantifizierung von deutschen Gesetzen mit EU-Bezug aber nur schwer berücksichtigen. Wo genau der Impuls auf europäischer Ebene für ein Gesetz herkam, wer sich wofür wie eingesetzt hat und welches Gesetz voranbringt, ist nicht immer eindeutig nachzuvollziehen.

Minister können den politischen Spielraum auf EU-Ebene auch bewusst nutzen, wie König sagt. Manchmal könnte es einfacher sein, für ein Gesetzesvorhaben Mitstreiter auf EU-Ebene zu finden als in der eigenen Koalition auf nationaler Ebene, erklärt der Politikwissenschaftler: "Da kann ich als Minister vielleicht sogar ein Stück mehr Spielraum haben, wenn ich auf europäischer Ebene als Verhandler sitze".

Denn was die EU bestimmt, das gilt für die Mitgliedsstaaten verbindlich und sticht nationales Recht [externer Link].

Experten: Politiker schreiben Verantwortung für manche Gesetze der EU zu

Andersherum könne laut König ein Gesetz auf nationaler Ebene mit EU-Vorgaben begründet werden, um strategisch die Verantwortung abzugeben. Das beobachtet auch Christoph Herrmann, Europarechtler an der Universität Passau: "Wenn etwas unbequem ist, dann möchte man selber nicht dafür verantwortlich sein. Wenn etwas sehr gut ist, dann möchte man sich das ans eigene Revers heften", sagt der Jurist.

Brüssel dafür zu beschuldigen, was alles schlecht laufe, sei "ein Spiel, das leider auf mitgliedstaatlicher Ebene immer gespielt wird". Das sei ähnlich wie beim Verhältnis zwischen Bund und Ländern hierzulande, so Herrmann. "Die Länder versuchen auch, möglichst viel Verantwortung auf den Bund abzuwälzen und umgekehrt."

Politikwissenschaftler König nennt eine weitere Einschränkung. Nur weil in einem Gesetz steht, dass es eine EU-Vorgabe umsetze, bedeute das nicht immer, dass diese in dem Gesetz wirklich so umgesetzt werde, wie es die EU eigentlich vorgibt. Die Implementation der EU-Vorgaben ähnelt teilweise "einem Katz-und-Maus-Spiel" zwischen EU-Kommission und Mitgliedstaat, sagt König.

All diese Aspekte machen eine Aussage in Zahlen über den Einfluss der EU auf die nationalen Gesetze kompliziert.

EU-Vorgaben schaffen allgemeinen Gesetzesrahmen

Generell müssen die EU-Länder bei der Gesetzgebung das geltende EU-Recht beachten, etwa wenn es um das Diskriminierungsverbot nach Staatsangehörigkeit geht. Das besagt etwa, dass bei der Besteuerung der Bürger hierzulande deutsche Staatsbürger nicht besser gestellt sein dürfen als etwa Franzosen oder Italiener, die hier arbeiten und leben, erklärt Europarechtler Herrmann. Dass sich also das deutsche Steuerrecht mit neuen Gesetzen immer daran orientieren muss, hat einen Einfluss, der aus dem konkreten Gesetz aber womöglich gar nicht herauszulesen ist.

Auch jenseits konkreter Prozentzahlen ist für die Experten klar: Die Bedeutung der EU-Gesetze für Deutschland ist groß. Jurist Christoph Herrmann sagt: "Das Unionsrecht hat einen sehr großen Einfluss auf die Rechtslage in Deutschland, das ist völlig unbestreitbar."

Einfluss der EU je nach Themengebiet unterschiedlich groß

Dieser Einfluss ist in unterschiedlichen Bereichen allerdings unterschiedlich groß. Sehr stark durch die EU geprägt sind laut der Experten etwa die Bereiche Landwirtschaft, Umwelt, Handel, Verbraucherschutz, Wettbewerbs- und Kartellrecht oder die Geldpolitik mit der gemeinsamen Währung. Das deckt sich etwa mit den älteren Erkenntnissen des oben erwähnten Hagener Gutachtens. Die Gebiete Soziales und Steuern etwa sind hingegen verhältnismäßig wenig von EU-Vorgaben geprägt.

Aber insgesamt gilt: "Es gibt nur noch relativ wenige Rechtsbereiche, in denen die Mitgliedstaaten tun und lassen können, was sie wollen", sagt Christoph Herrmann.

Was eindeutig zu beobachten sei, betonen sowohl Herrmann als auch Politikwissenschaftler Thomas König: Die EU setzt ihre Vorgaben vermehrt mittels Verordnungen statt mit Richtlinien durch.

EU-Vorgaben: Mehr Verordnungen, weniger Richtlinien

Der Unterschied: Eine Richtlinie [externer Link] gibt den Mitgliedstaaten ein Ziel vor, zum Beispiel CO2 zu reduzieren, stellt ihnen jedoch frei, wie sie dieses Ziel mittels nationaler Gesetze erreichen. Eine EU-Vorgabe ist hingegen sehr konkret. Sie sagt beispielsweise, dass der CO2-Ausstoß von Autos einen bestimmten Grenzwert haben muss [externer Link].

Politikwissenschaftler König kritisiert, dass dadurch die Zentralisierung zunimmt und immer häufiger die vorgesehenen parlamentarischen Verfahren auf EU- oder nationaler Ebene umgangen werden. Auf der anderen Seite würden Vorgaben dadurch einheitlicher umgesetzt und sie könnten im Zweifelsfall leichter vor Gericht geklärt werden, sagt Europarechtler Herrmann.

Dass heutzutage viele Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen werden, halten die Experten nicht für grundsätzlich schlecht. König sagt, inhaltlich wären viele Vorgaben sinnvoll. Häufig problematisch sei die daraus folgende Dokumentationspflicht. "Wenn wir durch eine EU-Verordnung besseres Wasser bekommen, ist das gut. Negativ ist aber, wenn man dann alle fünf Minuten ein Formular zur Berichterstattung ausfüllen muss."

Fazit

Aktuelle, offizielle Zahlen für den Einfluss der EU-Normen auf deutsche Gesetze gibt es nicht. Eine systematische Erfassung bringt auch zahlreiche methodische Schwierigkeiten mit sich. So ist nicht jede Umsetzung von EU-Vorgaben als solche gekennzeichnet; außerdem kann es laut Experten auch sein, dass Politiker etwa unliebsame nationale Gesetze der EU zuschreiben, um die Verantwortung dafür abzugeben. Außerdem sind die Mitgliedstaaten – und damit auch Deutschland – in den EU-Organen entscheidend an der Gesetzgebung und -ausrichtung beteiligt.

Fest steht laut Experten: Der Einfluss der EU auf nationale Gesetze ist groß – in einigen Politikbereichen wie Landwirtschaft, Handel und Verbraucherschutz jedoch deutlich größer als in den eher national bestimmten Bereichen Soziales und Steuern.

Unsere Quellen:

Hier listen wir die Quellen auf, die wir für die Recherche verwendet haben. Neben den im Artikel verlinkten Quellen wurden im Zuge der Recherche weitere verwendet.

Interviews

Prof. Dr. Thomas König, Universität Mannheim

Prof. Dr. Christoph Herrmann, Universität Passau

Telefonate & Mail-Austausch

Pressestelle des Deutschen Bundestags

Bundespresseamt

Prof. Dr. Annette Elisabeth Töller, Fernuni Hagen

Prof. Dr. Sonja Grimm, Universität Würzburg

Publikationen

Politische Vierteljahresschrift (2008), “Das Regieren jenseits des Nationalstaates und der Mythos einer 80-Prozent-Europäisierung in Deutschland”, Thomas König / Lars Mäder

Springer (2012), “The Europeanization of Domestic Legislatures”, 2012, Sylvain Brouard / Olivier Costa / Thomas König

Fernuni Hagen (2014), "Europäisierung der deutschen Gesetzgebung - Wissenschaftliches Kurzgutachten", Annette Elisabeth Töller

Zeitschrift für Parlamentsfragen (2010), "Der Mythos vom “europäischen Impuls” in der deutschen Gesetzgebungsstatistik", Sven Hölscheidt / Tilman Hoppe

Internetseite der Bundesregierung, "Die Europapolitik der Bundesregierung"

Internetseite der Europäischen Union, "Europäische Kommission - Tätigkeiten"

Internetseite der Europäischen Union, "Rat der Europäischen Union - Aufgaben"

Internetseite der Europäischen Union, "Arten von Rechtsvorschriften / Europäische Union"

Bundeszentrale für politische Bildung, "EU: Recht der Europäischen Union"

Internetseite Europäischer Rat, "Fit für 55’: Warum verschärft die EU die CO₂-Emissionsnormen für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge?"

Euronews.com, "Wie viel Einfluss hat die EU auf unsere Gesetzgebung?"

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