Am 9. August leitet Verteidigungsminister Schoigu eine Sitzung
Bildrechte: Dmitri Karischkow/Picture Alliance

Russlands Armeeführung berät sich

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Wir brauchen Strafbataillone": Putins Armee in großen Nöten

Angesichts fehlender Erfolge an der Front und erheblicher Verluste werden die russischen Militärexperten und "Patrioten" immer radikaler in ihren Forderungen. Außerdem muss der Kreml eine Rückkehr der "Wagner"-Söldner fürchten: Der Frust ist groß.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Seit die Ukraine die höchst umstrittene Streumunition einsetzt, mehren sich in den Telegram-Kanälen der russischen "Z-Blogger", also der ultrapatriotischen Militärexperten, die düsteren Wortmeldungen. So würden Unterstände erst von ukrainischer Artillerie beschossen und russische Frontsoldaten in dem Moment mit Streubomben belegt, in dem sie die zerstörten Gräben verließen: "Das Ergebnis ist leider nicht zu unseren Gunsten", kommentieren die "Zwei Majore", die immerhin knapp 400.000 Abonnenten mit Infos versorgen. Auch die übliche Propaganda-"Lyrik" von der Front lässt durchblicken, dass Putins Truppe in große Nöte geraten ist. So ist immer wieder von einer "schwierigen Lage" die Rede.

"Erteilt Befehle nicht aus dem Bauch heraus"

Mal behaupten russische Blogger wie das populäre Portal Rybar, den ukrainischen Soldaten sei es gelungen, "eine zuvor im Niemandsland gelegene Befestigung zu besetzen", mal fassen sie "am Rande eines Dorfes Fuß", mal wird "heftig um die Kontrolle einer Linie" gerungen. Die Ukraine verteidige ihr Territorium "erbittert", heißt es, wenn große russische Verluste umschrieben werden sollen, der Hinweis, ukrainische Soldaten seien in russische Verteidigungslinien eingedrungen, verbrämt taktische Niederlagen. Beliebt ist auch der Hinweis von russischen Politikern, eine Siedlung sei "völlig zerstört", bevor unausgesprochen der Rückzug angetreten wird.

Neuerdings freilich werden die Z-Blogger deutlicher. So scheint es ukrainischen Schnellbooten gelungen zu sein, den Dnjepr zu überqueren und Truppen auf dem russisch besetzten "linken Ufer" abzusetzen. Das lässt populäre Netzkommentatoren wie "Ossetin" nicht ruhen. Er sieht erhebliche Defizite auf russischer Seite: "Richtet verdeckte Stellungen ein, nicht offen einsehbare. Konzentriert nicht so viel Material an einem Ort. Schießt nicht, um zu vermeiden, dass eure Position festgestellt werden kann. Handelt besonnener. Erteilt die Befehle nicht aus dem Bauch heraus, sondern schaltet euren Kopf ein und achtet darauf, dass ihr nüchtern bleibt."

"Nehmen wir Herausforderung ernster"

Das zielt offenbar auf den Alkoholmissbrauch unter mobilisierten Soldaten, die angeblich nicht verstünden, was "gegenseitige Hilfe" bedeute, abgesehen davon, die Flaschen kreisen zu lassen. Im Übrigen fällt "Ossetin" auf, dass zu viele Kameraden "alleine zum Helden" werden wollten und benachbarte Truppenteile nicht über ihre nächsten Schritte informierten. Die Ukraine verfüge über immer bessere Schnellboote, sie bekomme hinter den russischen Linien auch deutlich mehr Unterstützung von Partisanen als umgekehrt. Das Fazit des angeblich 20-jährigen Freiwilligen von der Front bei Cherson: "Nehmen wir die Herausforderung ernster."

Nun ist es schwer, aus der Distanz die Glaubwürdigkeit solcher Äußerungen einzuschätzen, zumal die Desinformation im Netz ständig zunimmt und die Geheimdienste auf allen Seiten kräftig mitmischen. Bemerkenswert ist allerdings die Wortmeldung des russischen Ex-Politikers und Kommandanten Alexander Chodakowski (612.000 Fans), der Alarm schlägt, was die Motivation der russischen Soldaten betrifft. Nur, wer "innerlich beteiligt" sei, könne "alles aus sich herausholen", so der Frontoffizier und Blogger: "Wenn ich sage, dass wir Strafbataillone und Strafabteilungen brauchen, wie werden Sie das aufnehmen?" Er erinnert an Napoleon und Stalin, die ihre Siege auch mit Hilfe von solchen Sondertruppen errungen hätten.

"Gegengewicht für Mangel an Motivation"

"Wenn wir über einen solchen Krieg sprechen, in dem die Niederlage gleichbedeutend mit dem Tod ist und die menschlichen Grundinstinkte sich als stärker erweisen als die Propaganda – dann verstehe ich nach allem, was ich gesehen habe, woran es liegt. Gleich zu Beginn der Spezialoperation habe ich Feiglinge nach hinten geschickt und sie bis zu ihrem Strafprozess in Gewahrsam genommen, aber ich würde sie lieber mit Maschinengewehren vorantreiben", so Chodakowski, der darüber philosophiert, woran es wohl liege, dass beinahe jeder Mensch hoffe, sich selbst zu retten. Immerhin gibt der Kommandeur zu, Strafbataillone seien traditionell ein "hässliches Thema, das in einer friedfertigen Gesellschaft mehr Unwillen als Verständnis" hervorrufe.

"Aber was sind Strafabteilungen? Sie sind ein Gegengewicht für den Mangel an innerer Motivation. Wir werden niemals in der Lage sein, die menschlichen Grundinstinkte zu überwinden und den gesamten Teil der Gesellschaft, der für den Krieg bestimmt ist, in Helden wie Nikolai Gastello oder Alexej Maresjew zu verwandeln – aber der Krieg muss gewonnen werden", fordert Chodakowski mit einer Verve, die fast schon an die "Volkssturm"-Rhetorik der Nationalsozialisten erinnert. Das erklärt sich aus seinem tiefen Frust über die Lage an der Front. Er sprach jüngst von einem "Chaos", gab zu, dass die Ukraine seine Leute "aus einigen Positionen gedrängt" habe und flehte: "Betet, orthodoxe Brüder für unsere Leute." Seine Einheit habe es "satt, am Boden der Schützengräben entlang zu kriechen".

Stalin schickte Kommandeure zur "Bewährung"

Tatsächlich griff schon Napoleon auf Regimegegner und widerwillige ausländische Rekruten zurück, um "Strafabteilungen" aufzustellen. Darunter soll auch ein "Würzburger Infanterieregiment" gewesen sein. Außerdem sollen viele Franzosen aus der Vendée, einer rebellischen, königstreuen Region, zwangsweise für die Feldzüge gezogen worden sein. Im russischen Zarenreich und unter Stalin wurde die unheilvolle Tradition der "Strafeinheiten" fortgesetzt. Der sowjetische Diktator hatte in einem Befehl vom 28. Juli 1942 angeordnet, bis zu drei Bataillone mit jeweils 800 Soldaten zu schaffen, in denen "höhere und mittlere Kommandeure" dienen sollten, die "aus Feigheit gegen die Disziplin" verstoßen hätten. Für politische Gefangene und Todeskandidaten gab es eigene "Strafvollzugseinheiten", in denen sich die Betroffenen "bewähren" sollten. Auch die deutsche Wehrmacht mobilisierte im Zweiten Weltkrieg sogenannte "Bewährungsbataillone", in denen vorbestrafte bzw. "wehrunwürdige" Soldaten eingesetzt wurden. Die Einheiten galten umgangssprachlich als "Todeskommandos". Es soll sich um knapp 30.000 Soldaten gehandelt haben.

Der rhetorische Extremismus unter den Z-Bloggern geht übrigens über Strafbataillone noch deutlich hinaus: "Im Großen Vaterländischen Krieg flogen Piloten ohne Beine mit Prothesen. Bei Prothesen erlaubt man heutzutage einem Interessenten nicht einmal mehr, seine Papiere für die Etappe bereit zu legen. Warum eigentlich? Das heißt doch nichts anderes, als dass ein General dickbäuchig und kurzatmig sein darf, aber nicht ohne Arm", polemisierte ein Blogger. Man könne schließlich "ohne Beine siegen, aber nicht ohne Kopf".

"Wagner-Söldner zu verärgern ist Herausforderung"

Derweil meldet das amerikanische "Institute for the Study of War" in seiner neuesten Tagesanalyse, Putin drohe neuer Ärger von den "Wagner"-Söldnern, die ihre erzwungene Basis in Belarus nach und nach wieder aufgäben und nach Russland zurückfluteten, weil sie der belarussische Staatschef Lukaschenko nicht finanzieren wolle. Die Lage um "Wagner"-Chef Jewgeni Prigoschin und seine Leute sei ausgesprochen "dynamisch". Die Söldner hatten am 24. Juni eine Rebellion vom Zaun gebrochen, die den Kreml vor ganz neue Herausforderungen gestellt hatte: "Es ist unwahrscheinlich, dass Putin das Wagner-Problem lösen kann, solange das Spannungsverhältnis zwischen Putins eigenem Ziel, Prigoschin von Wagner zu isolieren, und [Verteidigungsminister Sergej] Schoigus Zielen bestehen bleibt, die volle Kontrolle des Verteidigungsministeriums über die Wagner-Truppe und alle anderen für Russland kämpfenden Streitkräfte zu sichern."

Spekulationen darüber, dass Schoigu die russischen Militäroperationen in Afrika von Wagner übernehmen solle, würden, wenn sie wahr seien, die Spannungen zwischen dem Verteidigungsministerium und dem Wagner-Personal, das aus Belarus oder Afrika nach Russland zurückkehrt, wahrscheinlich nur verschärfen, anstatt das Wagner-Personal davon zu überzeugen, sich im Einklang mit dem abgeschlossenen Deal konventionellen russischen Militäreinheiten anzuschließen: "Wagners Personal noch mehr zu verärgern und es gleichzeitig nach Russland zurückzubringen, stellt eine Herausforderung dar, wenn Putin versucht, die Wagner-Bedrohung zu beseitigen."

Wagner-Söldner: "Geschäftsreisen gehen weiter"

In Telegram-Kanälen, die Jewgeni Prigoschin nahestehen, ist von einer "Aktivierung der Hauptkräfte" für Ende August die Rede, Urlauber seien bereits entsprechend verständigt worden. In einer Mitteilung des "Großen Rats" der Söldner-Kommandeure ist zu lesen, viele Mitstreiter erhielten derzeit "zweitklassige Angebote aus Afrika" und weiter: "Jeden Tag brechen unsere Jungs zu Geschäftsreisen zu weit entfernten Zielen auf. Wo immer wir auch gearbeitet haben, wir machen weiter und werden dranbleiben. Halten Sie Ihre Reisepässe bereit und erwarten Sie neue Geschäftsreisen. Es ist unmöglich, die Einheit der größten und effektivsten Armee der Weltgeschichte namens Wagner Private Military Group zu zerstören und sie unter einem neuen Dach wieder aufzubauen. Fallen Sie nicht darauf herein. Rufen Sie Ihre Kommandeure an."

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!