Nach großen Romanen über die Geschichte des 20. Jahrhunderts, darunter "Landgericht", erzählt Ursula Krechel jetzt (und wieder) von der Gegenwart. Eva Patarak ist eine der drei Hauptfiguren in "Sehr geehrte Frau Ministerin". Sie arbeitet in einem Kräutergeschäft in Essen und vergleicht die eigene Existenz gerne mit der Lage des Ladens: 2B, nicht 1A.
Der Sohn ist ihr abhanden gekommen
Ihren Sohn Philipp hat Patarak allein großgezogen. Jetzt muss sie mit ansehen, wie er hinter dem Computerbildschirm verschwindet und verwahrlost, das Studium hat er längst geschmissen. Die Mutter weiß nicht wirklich, wie sie ihm begegnen kann. Und überhaupt bleibt ihr kaum Raum für die Verwirklichung eigener Träume.
"Mich hat ihre Normalität interessiert", sagt die Schriftstellerin im BR24-Gespräch. "Mich hat interessiert, dass sie von ihrer eigenen Schüchternheit, von ihren eigenen Mängeln so sehr überzeugt ist. Und diese Mängel machen es wiederum interessant, über sie zu schreiben. Sie ist angestrengt. Sie will auch für den Sohn selbstverständlich das Beste."
Man kann den Roman mit einem Triptychon vergleichen, einem dreiteiligen Altarbild: Eva Patarak gehört bei Krechel das Bild auf der einen, der namenlos bleibenden Bundesjustizministerin das auf der anderen Seite. Diese lebt in einer Welt, die sich von der Evas fundamental unterscheidet – und sie wird, wichtig für das Romangefüge, Opfer einer Gewalttat.
In der Mitte, die beiden Figuren und ihre Geschichten feinsinnig miteinander verknüpfend: die Lateinlehrerin Silke Aschauer. Sie lädt ihre Schülerinnen und Schüler ein, die "Annalen" des römischen Historikers Tacitus zu lesen.
Ein Kaiser, der seine Mutter töten lässt
Mit dieser Rückschau eröffnet sich eine weitere Erzählebene: die Geschichte von Nero und dessen Mutter Agrippina, der Gründerin Kölns. Sie verhalf dem Sohn zur Macht und wurde dann in seinem Auftrag ermordet. "Diese Frau", so Ursula Krechel, "schaut zu oder ist daran beteiligt, wie Macht entsteht, wie Macht inszeniert wird. Bis sie selber 'weginszeniert' wird, weil sie zu mächtig ist."
Neros Gewalttat treibt nun Silke Aschauer um, die Erzählerin in "Sehr geehrte Frau Ministerin". Aber nicht nur das: Die Lehrerin, die sich so gerne im Schreiben verliert, ist mit einer körperlichen Beeinträchtigung konfrontiert – sie leidet unter starken Regelblutungen, so sehr, dass ihr von mehreren Ärzten eine Operation der Gebärmutter empfohlen wird. Die körperlichen Qualen nehmen viel Raum in Silkes Geschichte ein. Ursula Krechel schildert sie behutsam und zugleich eindringlich.
Gezeichnete sind sie alle drei, die Frauenfiguren in Ursula Krechels Roman – Repräsentantinnen unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus. Auch die Ministerin, die erst eine Reihe von anonymen, oft abwegigen Briefen erhält und schließlich vor ihrem Haus in Essen mit einem Messer angegriffen wird. Man ahnt bei der Lektüre frühzeitig, dass es zu diesem Überfall kommen wird. Und ist trotzdem überrascht, als er sich dann tatsächlich ereignet.
Krechel sorgt sich um den Rechtsstaat
Das Hauptthema der Ministerin sei der Rechtsstaat, erzählt die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin Ursula Krechel: "Und der Rechtsstaat ist etwas, was wir im Moment sehen, das verteidigt werden muss – ich glaube, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik auf so heftige Weise."
Das sich anbahnende Attentat bestimmt die Oberflächen-Struktur von Ursula Krechels Roman. Zum Ereignis aber werden in diesem Buch die fortwährenden Bewegungen in seiner Tiefe, die Erkundungen zu den Lebenswirklichkeiten dreier Frauen aus diesem Land – und die raffinierte Verflechtung der drei Geschichten zu einem sehr gelungenen Ganzen.
Ursula Krechels Roman "Sehr geehrte Frau Ministerin" ist im Verlag Klett-Cotta erschienen.
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