Totenschädel liegen auf aufgelassenem Friedhof
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An der Kolyma: Überreste sowjetischer Arbeitslager

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"Arbeitslager ist ihnen sicher": Russland ängstigt Rückkehrer

Offiziell lässt Putin verbreiten, alle Landsleute im Exil seien willkommen, doch Parlamentspräsident Wolodin droht ihnen mit "Magadan", dem Inbegriff für sibirische Arbeitslager. Der dortige Gouverneur sagt über Exilanten: "Wir müssen sie loswerden."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Wenn es nur so einfach wäre. Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte kürzlich zur möglichen Rückkehr von russischen Exilanten: "Bürger der Russischen Föderation leben in vielen Ländern der Welt. Und die Russische Föderation ist ihr Heimatland. Wie kann die Heimat jemanden bedrohen?" Das gelte für die "Gesamtheit" der Betroffenen, so Peskow, der sich zu Einzelfällen wohlweislich nicht äußern wollte. Allerdings fühlte er sich dann doch bemüßigt, die Rückkehr des umstrittenen Oligarchen Michail Fridman nach Moskau zu kommentieren, dem von russischen Nationalisten vorgeworfen wird, der ukrainischen Armee Millionen gespendet zu haben: "Er ist Bürger der Russischen Föderation. Er kann hierher zurückkehren, hier leben, hier weggehen, wie jeder andere Bürger Russlands auch. Daran ist nichts Ungewöhnliches", so Peskow laut staatlicher Nachrichtenagentur TASS.

Hinter den Kulissen hieß es, Fridman habe sich das demonstrative Wohlwollen des Kremls damit erkauft, dass er eine Londoner Dachgesellschaft auflöste und die Vermögensteile an eine Offshore-Firma mit Sitz in Königsberg/Kaliningrad übertrug. Damit habe Putin deutlich gemacht, wie er bei "Aussiedlern, die ihre Fehler erkannt" hätten, vorzugehen gedenke: Garantien gegen Geld.

"Wir müssen sie loswerden"

Offiziell legte der Kreml den Exilanten demnach den "Roten Teppich" aus, doch Parlamentspräsident Wjatscheslaw Wolodin, einer der eifrigsten Kriegspropagandisten, verschreckte Rückkehrwillige mit einer massiven Drohung: "Wenn wir über Aussiedler sprechen, über diejenigen, die das Land verlassen und abscheuliche Taten begangen haben, die sich über die auf das Territorium der Russischen Föderation abgefeuerten Schüsse freuten und der Ukraine den Sieg wünschten, müssen sie einsehen, dass sie hier bei uns nicht nur unwillkommen sind. Falls sie zurückkehren, ist ihnen Magadan sicher." Der Ort im Fernen Osten gilt als einstige Zentrale der Arbeitslager an der Kolyma, einer arktischen Region, wo bis 1956 Hunderttausende von Gefangenen unter extremsten klimatischen Bedingungen in Kohle- und Goldbergwerken schuften mussten. Viele kamen dabei um. Über die Zustände unter Stalin schrieb der russische Autor Warlam Schalamow, selbst jahrelang an der Kolyma inhaftiert, erschütternde Kurzgeschichten.

Prompt meldete sich der jetzige Gouverneur von Magadan, Sergej Nosow, und verbat sich "alte Vorurteile" über seine Region. An der Kolyma akzeptiere man "keine abscheulichen Menschen und Verräter": "Leider gibt es sie. Aber wir müssen sie loswerden, jeder muss sie loswerden, nicht nur wir. In Kolyma leben wunderbare Menschen. Wahre Patrioten ihres Landes leben und arbeiten hier. Kolyma entwickelt sich heute im Auftrag des Präsidenten und der Regierung der Russischen Föderation dynamisch. Deshalb brauchen wir hier kompetente, gebildete und professionelle Menschen."

Putin: "Was denn sonst?"

Putin sagte am Rande einer Pressekonferenz in Kirgisien zu den Rückkehrern: "Was erwartet diesen oder jenen Menschen bei der Rückkehr in seine Heimat? Das hängt auch davon ab, wie er sich verhielt. Es ist eine Sache, das Gesetz zu brechen, und eine andere, moralische und ethische Standards in Bezug auf das eigene Heimatland zu verletzen. Wenn sich ein Mensch in den Augen der überwältigenden Mehrheit, nicht nur eines Teils der Elite, sondern der überwältigenden Mehrheit der Bürger, gegenüber Russland unmoralisch verhalten hat, wird er das natürlich zu spüren bekommen, wenn er hierher zurückkehrt. Was denn sonst?"

"Sogar die Bolschewiki verziehen weißen Offizieren"

Der russische Senator Anatoli Schirokow sprang dem aufgebrachten Gouverneur zur Seite: "Mir wäre wichtig, dass Magadan im öffentlichen Bewusstsein nicht ausschließlich mit Lagern, ausschließlich mit Gefangenen in Verbindung gebracht wird. Ich bringe die Region mit starken und mutigen Menschen in Verbindung, die oft nicht dank, sondern trotz allem in der Lage waren, sehr ernste Probleme zu lösen." Gebürtige Magadaner fühlten sich "gedemütigt" und bezeichneten ihre Gegend als "wunderschön, aber rau". Es gebe sogar Russen, die in die dünn besiedelte arktische Region reisten, um dort "romantische Momente" zu erleben.

Diese höchst widersprüchlichen Äußerungen lösten in Russland eine erregte Debatte aus. Blogger Sergej Gurkin fühlt sich förmlich ertaubt durch die "Dissonanz" und beklagt "schrille Aussagen, die nichts zu bedeuten" hätten: "Ein beträchtlicher Teil des Herrschaftsapparats, der auf den Podien hockt, regiert nicht, sondern macht den Karren nur schwergängiger und versperrt die Sicht." Andere Beobachter fragten sich, was Wolodin antreibe. Die Neigung Russlands, seine eigenen Bürger zu "terrorisieren", sei "immer noch erstaunlich". Es sei ja durchaus denkbar, Rückkehrer nach der Schwere ihrer Vergehen unterschiedlich zu behandeln und ihnen zum Beispiel an der Front die Möglichkeit zu geben, "Buße zu tun": "Sogar die Bolschewiki verziehen den weißen [antikommunistischen] Offizieren, die ins Land zurückkehrten und ihre Macht anerkannten – zum Wohle des Staates."

"Wie passt das zusammen?"

Die gut informierte Kolumnistin des Portals "Russland kurzgefasst" (500.000 Fans), Ekaterina Winokurowa, will aus dem Kreml erfahren haben, dass die dortigen Verantwortlichen Wolodins Drohungen als "persönliche Stellungnahme" werten: "Wolodin achtet darauf, welche Themen die Gesellschaft bewegen und er weiß, wie man sich so ausdrückt, dass es bei der Gesellschaft Anklang findet. Umfragen zeigen, dass die Gesellschaft Rückkehrer schlecht behandelt, und Wolodin hat eine Aussage gemacht, die bei seinem Publikum Anklang findet." Das alles halte sich im Rahmen einer "noch erlaubten Diskussionsfreiheit". Eine Anordnung "von oben" gebe es dazu nicht.

Die russischen Ultrapatrioten zeigten sich fassungslos darüber, dass Wolodin rückkehrwillige Russen einerseits wüst beschimpft, der milliardenschwere Alfa-Bank-Aktionär Michail Fridman jedoch andererseits mit "offenen Armen" empfangen wurde. "Wie passt das zusammen? Obwohl vermutlich nicht heute, aber spätestens morgen offiziell bekannt gegeben wird, dass Fridman niemals Geschäfte mit dem Kiewer Regime machte, kein Geld dorthin überwiesen hat und im Allgemeinen sogar der hingebungsvollste Patriot aller Patrioten ist, dem alle Bürger Russlands und alle anderen nacheifern sollten, während alle gegenteiligen Behauptungen Verleumdung sind, betrieben von Kiew."

"Es verursacht Wut und Verzweiflung"

Rechtsextreme Kriegsblogger wie Boris Roschin (820.000 Abonnenten) forderten ungehalten Fridmans Festnahme wegen "Terrorismusfinanzierung". Dessen Eigentum solle verstaatlicht werden: "Das wäre jedenfalls der Fall, wenn alle vor dem Gesetz gleich wären." Der kremlnahe Politologe Sergej Markow schrieb: "Die Situation um Fridman, der jetzt in Russland angekommen ist, löst bei den einfachen Bürgern Russlands und bei denen, die die russische Armee mit ganzer Seele und Zeit, mit ihrem Geld und mit aller Kraft unterstützen, einfach Bestürzung aus. Und es verursacht Wut und Verzweiflung."

Angeblich haben die Anwälte von Fridman gemeinsam mit dem Kreml bereits eine juristisch "saubere" Möglichkeit gefunden, ihren Mandanten vor unliebsamen Prozessen zu bewahren. Es gebe eine Regelung im russischen Strafrecht, wonach jemand trotz Zahlungen an feindliche Truppen nicht mit Konsequenzen rechnen muss, wenn er dazu beitragen habe "schlimmeren Schaden von Russland abzuwenden". Gleichwohl werde vertrauenswürdigen Nationalisten die Gelegenheit gegeben, etwas herum zu schimpfen, um die Stimmungslage propagandistisch aufzuhellen.

Möglicherweise habe Wolodin mit seinem Blogeintrag russische Exilanten im Ausland warnen wollen, dass sie auch jenseits der russischen Grenze mit ihren Äußerungen zurückhaltend sein sollten, mutmaßten Kommentatoren. Der Kreml ziehe wohl eine "unübersehbare Linie" zwischen denen, die sich im Ausland nicht allzu sehr "von der Luft der Freiheit berauschen" ließen und denen, die ihre Meinung "nicht verheimlicht" hätten.

"Genau das Signal ist hier heraus zu lesen"

Der Blogger Dmitri Drise vom liberalen Sender "Kommersant", folgerte aus der Debatte, dass "nur wenige Menschen zurückkehren wollen, weil die Risiken steigen". Es sei nämlich offenbar schon verdächtig, wenn Exilanten im Ausland allzu "glücklich" seien: "Andere werden sagen: Ich habe doch ganz still im Ausland gesessen und gar nichts gesagt. Nein, lieber Kamerad, wir haben andere Informationen darüber. Du hast dich dort versündigt, die Luft der Freiheit hat dich berauscht, du hast dir zu viel erlaubt. Und du hast es selbst nicht einmal gemerkt. Sie müssen nicht nur zu Hause darauf achten, was sie sagen. Genau das Signal ist hier heraus zu lesen."

Offenbar erstrecke sich die russische Gerichtsbarkeit neuerdings auf die ganze Welt, spottete Blogger Albert Bikbow: "Doch mangels internationaler Verträge ist das eine juristische Absurdität." Ein offenbar älterer Russe erinnerte an ein geflügeltes Wort aus der Sowjetzeit. Damals hieß es auf die Frage, ob ein Chef durchsetzungsstark ist: "Ja, von seinem Büro aus ist Magadan zu sehen." Damit war klar, wo unbotmäßige Untergebene und eventuelle Konkurrenten landeten.

Ein besonders mutiger Kommentator meinte: "Wenn die Exilanten alle gleichzeitig und mit Waffen in der Hand zurückkehren, dann wartet Magadan auf Wolodin." Ironisch vermutete ein anderer Leser, wenn tatsächlich alle Dissidenten in den Fernen Osten verfrachtet würden, werde Magadan die "Kulturhauptstadt" Russlands. Der dortige Flughafen sei übrigens nach dem berühmten sowjetischen Schauspieler und Sänger Wladimir Wyssozki (1938 - 1980) benannt.

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