Symbolbild: Nachdenkliche Frau hockt neben einem Bett, die Hand in den Haaren
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Autismus und Gesellschaft: Clara Törnvalls "Die Autistinnen"

Die Behinderung kommt erst durch die Gesellschaft, sagt die Journalistin und Autistin Clara Törnvall. In "Die Autistinnen" fragt sie, warum Frauen in der Medizin bis heute benachteiligt sind – und was genau wir eigentlich für "normal" halten.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Die schwedische Journalistin Clara Törnvall war 42 Jahre alt, als sie endlich die Diagnose bekam, die so viele Probleme in ihrem Leben erklärte: hochfunktionaler Autismus. Damit werden Menschen beschrieben, die Autismus haben, durchschnittlich oder leicht überdurchschnittlich intelligent sind und die es schaffen, im Alltag einigermaßen zurechtzukommen.

Medizin noch immer am Mann orientiert

In ihrem Buch "Die Autistinnen" stellt Clara Törnvall nun die Frage, warum das eigentlich so lange gedauert hat, bis sie ihre Diagnose bekommen hat. Wo ihr doch spätestens als Volljährige klar war, dass sie psychologische Hilfe braucht. Leider ging es ihr wie vielen Mädchen und Frauen, die Autismus haben, der aber nicht erkannt wird. Der Grund liegt zum einen an einer Forschung und Medizin, die nicht geschlechtergerecht ist, zum anderen aber auch an einer Medizin-Geschichte, die von sexistischen Vorstellungen durchzogen ist.

Bis in die 1990er Jahre war der Glaube vorherrschend, dass Autismus mit dem sozialen Milieu zu tun habe, schreibt Clara Törnvall. 1960 schrieb ein gewisser Leo Kanner über sogenannte "Kühlschrankmütter", die gerade lange genug aufgetaut waren, um ein Kind zu produzieren. Wenn also ein Kind an Autismus erkrankte, war die kaltherzige Mutter schuld. Dass die Mütter möglicherweise selbst Autismus hatten und deshalb "anders" waren, nicht neurotypisch, auf die Idee sei damals niemand gekommen.

Noch heute sei es oft so, dass sich die Fragebögen, mit denen sich mögliche Symptome abfragen lassen, an männlichen Autisten orientieren, schreibt Clara Törnvall. Die entsprechen oft den klassischen Nerds, dass aber weibliche Nerds andere Spezialinteressen haben könnten, wird nicht mitgedacht. So wurde bei Clara Törnvalls Diagnose abgefragt, ob sie sich besonders für Automarken interessiere. Sie beantwortete die Frage mit "Nein". Grundsätzlich sollte damit aber nur herausgefunden werden, ob sie ein Hobby, ein Interesse habe, dass sie ganz besonders in Beschlag nimmt.

Nicht 'anders' genug

"Das Schwierigste an hochfunktionalem Autismus ist," erzählt Törnvall, "dass man als Betroffene viel zu 'normal' ist, um mit seinen Schwierigkeiten ernst genommen zu werden, gleichzeitig aber auch zu 'anders', als dass man sich vollends anpassen könnte."

Viele Autistinnen kommen im Alltag so gut zurecht, dass ihrer Umgebung nicht unbedingt auffällt, dass sie autistisch sein könnten. Ein typischer Spruch, den hochfunktionale Autistinnen immer wieder zu hören bekommen ist: "Du bist doch viel zu sozial, um Autistin zu sein".

Was viele Mädchen und Frauen mit hochfunktionalem Autismus auszeichnet, ist dass sie eine hohe Anpassungsfähigkeit an ihre Umgebung zeigen. Gleichzeitig wird von ihnen auch mehr Empathie erwartet.

Soziale Codes aus der Popkultur

Clara Törnvall beschreibt, wie wenig damals die sozialen Codes von anderen Teenager-Mädchen für sie nachvollziehbar waren. So hatte sie eher kein Verständnis dafür, wenn Gleichaltrige immer wieder über ihren Schwarm sprechen wollten – wenn doch eigentlich alles schon gesagt wurde.

"Viele autistische Züge passen nicht zum traditionellen Rollenbild der Frau", so Törnvall. "Dazu gehört etwa, dass man als autistische Person ungern über Gefühle und Beziehungen spricht, sich lieber in seinem Zimmer vergräbt und den eigenen Interessen nachgeht, dass man Schwierigkeiten beim Lesen zwischen den Zeilen hat und das, was man sagen möchte, nicht verpacken kann."

Clara Törnvall erzählt, dass sie als junges Mädchen versucht hat, über Serien, Filme, Bücher soziale Codes zu lernen, das Verhalten in bestimmten Situationen – um sich im Kontakt mit den Menschen um sie herum zurechtzufinden. Wenn man bedenkt, wie eindimensional und klischeehaft viele Frauenfiguren in den Sitcoms der 90er Jahre waren, ist das natürlich nur eine schwache Hilfe für eine Teenagerin.

Behinderung erst durch die Gesellschaft

Gleichzeitig können Autistinnen aber sehr empathisch sein, sie haben oft einen starken Gerechtigkeitssinn und eine große Ernsthaftigkeit beim Verfolgen der eigenen Interessen – das berühmteste Beispiel dafür ist die Klimaaktivistin Greta Thunberg.

Für die hochfunktionalen Autistinnen, um die es Clara Törnvall in ihrem Buch geht, gilt: Die Behinderung kommt durch die Umwelt, durch die Strukturen der Gesellschaft. Riesige Einkaufszentren, Großraumbüros, ein überfüllter Nahverkehr, solche Umgebungen können Autisten das Leben schwer machen – weil es Orte sind, die schnell zu einer Reizüberflutung führen können.

Clara Törnvall zitiert zum Beispiel die Psychologin Jac den Houting, die einen TED Talk zu Autismus gegeben hat, der 1,4 Millionen mal aufgerufen wurde. Den Houting sagt über sich selbst: "Ich bin nicht beeinträchtigt, ich werde beeinträchtigt. Mein gesellschaftliches Umfeld beeinträchtigt mich und meine Funktionen."

Weniger Konformitätsdruck wäre Lösung

Die Frage ist also: was brauchen autistische Menschen, um zum Beispiel konzentriert lernen oder arbeiten zu können? Damit ein Besuch im Supermarkt keinen Zusammenbruch zur Folge hat? Clara Törnvall plädiert für einen anderen Umgang der Gesellschaft mit Autistinnen und Autisten: "Autisten hat es immer schon gegeben, doch die Diagnose entsteht erst in der Konfrontation mit der Umwelt. Je konformer die Gesellschaft wird, desto deutlicher stechen anders geartete Individuen heraus."

Hier bekommt Törnvalls Buch auch eine wichtige politische Dimension. Sie schreibt darüber, wie wichtig in der schwedischen Gesellschaft der Gleichheitsgedanke ist – dass aber eben auch alle gleichermaßen zu funktionieren hätten.

"Die Autistinnen" von Clara Törnvall ist hochspannende Lektüre, es erzählt viel über eine Medizin, die noch nicht geschlechtergerecht ist, eine Forschung, die noch von Stereotypen geprägt ist – und es stellt indirekt die Frage: Was gilt hier eigentlich als normal?

"Die Autistinnen" von Clara Tönvill ist, übersetzt von Hanna Granz, bei Hanser Berlin erschienen, 240 Seiten, 24 Euro.

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