Der russische Präsident am Schreibtisch
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Putin bei seiner Begegnung mit Denis Puschilin

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"Beileid vom Dienst": Spott für Putins "Trauer" um Prigoschin

Überall in Russland wurden spontane Erinnerungsstätten für den verstorbenen Chef der Privatarmee "Wagner" errichtet, der Andenkenhandel blüht: Der Kreml müht sich, jeden "Verdacht" von Putin abzulenken. Alles andere sei "Lüge und Spekulation".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Es ist mal wieder lustig: Sobald Putin sein Beileid ausgedrückt hatte, streckten alle Beamten ihre Hände aus und gelobten Freundschaft mit Prigoschin, sie liebten ihn alle und sind untröstlich", fasst ein russischer Zeitungsleser in seinem Kommentar die Reaktion des Kremls auf den Tod des umstrittenen Söldnerführers zusammen. Nur der St. Petersburger Gouverneur Alexander Beglow sei "im Rückstand", der nämlich galt als Intimfeind von Prigoschin und werde sich wohl besonders viel Zeit lassen mit seiner Anteilannahme. "Wenn Putin geschwiegen hätte, hätten sie alle geschwiegen wie die Fische, wenn er aufgebraust wäre, hätten sie alle gebellt bis zur Heiserkeit, sie sind halt geschult", so der kundige Leser.

Lukaschenkos "verschlüsselte Nachricht"

Ähnlich herbe wird Putin von vielen Beobachtern verspottet. Er habe mal wieder "Beileid vom Dienst" gezeigt, hieß es. Unfreiwillig komisch reagierte sogar der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko, der erklärte, der Flugzeugabsturz sei eine "zu unprofessionelle, primitive Arbeit" gewesen, als dass Putin dahinter stecken könnte. Er wollte Prigoschin zu dessen Lebzeiten aufgrund "ernsthafter Hinweise" sogar vor einem Attentat gewarnt haben - ausgerechnet über eine "verschlüsselte Nachricht" an Putin! Irgendeine "Garantie" für den Söldnerchef dementierte Lukaschenko und sagte jetzt: "Ich musste nicht für seine Sicherheit sorgen."

"Er kann einfach nicht damit aufhören"

Kein Wunder, dass sich manche an das "Phantom der Oper" erinnert fühlten, was den Kitschfaktor betrifft und vermuteten, die "Freundschaft" zwischen Putin und Prigoschin werde gewiss bis in alle Ewigkeit fortdauern. Vermutlich werde bald irgendeine Brücke nach dem Kriegsunternehmer und Oligarchen benannt. Ein ganz Mutiger schrieb: "Ich würde lieber ihm [Putin] mein Beileid aussprechen." Verwunderlich sei, dass der Präsident den Hinterbliebenen "nicht gleich jeweils eine Million" ausgelobt habe. "Immer, wenn er jemanden verspeist, heult er, aber er kann einfach nicht damit aufhören", hieß es sarkastisch über Putins "Krokodilstränen".

Die Russen seien generell leicht empfänglich für Autosuggestion und könnten "Hypnotiseuren" halt nicht widerstehen, war zu lesen. Geschichtlich Interessierte verwiesen auf zwei Todesfälle, mit denen der noch nicht ganz fest im Sattel sitzende Stalin in Verbindung gebracht wird: Er soll, so die nie verstummten Gerüchte, dafür gesorgt haben, dass sein Konkurrent Michail Frunse bei einer Magenoperation am 31. Oktober 1925 zu viel Narkosemittel bekam und ein Attentat auf den Parteisekretär Sergej Kirow beauftragt haben, was beides bis heute fraglich ist. Mit Kirows gewaltsamen Tod begründete Stalin später seine "Säuberungsaktionen".

"Eliten in gewisser Sackgasse"

Zu den eher skurrilen Aspekten der Angelegenheit zählt ein Hilferuf des russischen Popmusik-Unternehmers und Konzertveranstalters Josef Prigoschin, ihm bitte keine Kränze mehr zu schicken. Er litt unter dem "Aufmerksamkeitsschub" durch die Namensverwechslung und hatte zahlreiche ernst gemeinte, aber auch scherzhafte Beileidsbekundungen erhalten: "Mitunter ist es unterhaltsam, die eigenen Nachrufe zu lesen."

"Dass Prigoschin gegangen ist, bedeutet nicht, dass seine Ära vorbei ist", so Politologe Dmitri Sewruykow. Die "Büchse der Pandora", aus der der Söldnerchef einst entwichen sei, sei eher "noch weiter geöffnet" als ehedem. Prigoschin habe Horrorfilme im Stil des sozialistischen Realismus in die Realität umgesetzt und dafür viel Applaus bekommen.

Der Kreml mühe sich, den Tod des Privatarmeebetreibers als "nichts Besonderes" abzuhaken und keinen "Hype" um Prigoschin zu veranstalten, wie diskrete Quellen beim Staatsfernsehen verrieten, so leicht sei das aber nicht: "Nachdem der Präsident nicht nur sein Beileid geäußert, sondern auch recht herzlich über Prigoschin gesprochen hatte, befanden sich die Eliten in einer gewissen Sackgasse. Einerseits bedeutet es, dass er wirklich gestorben ist, wenn ganz oben in höchsten Tönen ein schwieriger Mensch gelobt wird, der nützlich war, aber auch spürbare Unannehmlichkeiten und Ärger verursachte. Andererseits lässt sich die Logik auch umkehren, und die aktuelle positive Einschätzung Prigoschins, die fast einen Tag nach dem Vorfall vom politischen Olymp geäußert wurde, könnte mit besonderen Umständen zusammenhängen, die nicht von Dauer sein könnten."

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Trauerritual für Prigoschin: Foto und Blumen

Der russische Präsident hatte sich fast 24 Stunden Zeit gelassen und erst bei einer Begegnung mit dem von Moskau eingesetzten Gouverneur" der besetzten Region Donezk, Denis Puschilin, ein paar Worte zu Prigoschins Ableben gesagt, übrigens ohne es offiziell zu bestätigen. Putin sprach von einer "Tragödie", behauptete, "schon sehr lange" mit dem mutmaßlichen Absturzopfer bekannt gewesen zu sein und vergaß nicht darauf hinzuweisen, dass Prigoschin "schwerwiegende Fehler" gemacht habe. Das brachte der Präsident allerdings in Verbindung mit dessen "schwierigem Schicksal". Einzig Putins Geständnis, Prigoschin schon seit rund dreißig Jahren zu kennen, hatte einen gewissen Nachrichtenwert, denn der Verstorbene selbst hatte immer behauptet, sie seien sich erstmals zur Jahrtausendwende begegnet. Kremlsprecher Dmitri Peskow hatte ergänzt, jede Beteiligung des Kremls an Prigoschins Tod, die westliche Medien nahelegten, sei "Lüge und Spekulation".

"Irgendwie unaufrichtig"

"Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde", höhnten Russen über Putins grotesken Auftritt. Der Präsident schien dem Video zufolge sehr mit sich zu ringen, räusperte sich, holte immer wieder tief Luft und fingerte nervös an der Tischplatte herum. Sein Blick ging ins Nirgendwo oder senkte sich Richtung Boden, während er scheinbar sehr vorsichtig seine Worte wählte, was allerdings bemüht wirkte: "Diese Beileidsbekundung wirkt irgendwie unaufrichtig", kommentierte ein Leser diese Körpersprache. Weniger kritische Zuschauer bemerkten, dass Putin "nichts dramatisiert" und keine "Hypothesen" über den Absturz geäußert habe. Propagandisten wollten gar die "menschlichste und lebendigste" Rede seit Jahren wahrgenommen haben.

Der russische Oppositionspolitiker Igor Jakowenko sagte, Putin habe sich "in erster Linie" an Prigoschin gerächt: "Er wartet damit immer, das liegt in seiner Tradition." Darüber hinaus sei es auch eine "Warnung" an alle, die seiner Herrschaft gefährlich werden könnten. Die Liberalen hätten weitgehend das Land verlassen oder seien mundtot gemacht worden. Die Nationalisten, die einen aggressiver geführten Krieg wollten, seien dagegen bewaffnet: "Ich denke, dass hier zu einem großen Teil alles davon abhängen wird, wie stark die Situation an der Front die Stimmung in den russischen Streitkräften, den Sicherheitskräften, beeinflussen wird."

"Für sein Alter noch sehr aktiv"

Ähnlich wie Putin musste sich auch der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow verspotten lassen. Er hatte auf die Stellungnahme des russischen Präsidenten gewartet und dann eine fast gleichlautende "Eloge" veröffentlicht, die nicht ohne Realsatire war. So sei Prigoschin "für sein Alter noch sehr aktiv" gewesen: "Aber in letzter Zeit hat er entweder nicht mehr das vollständige Bild davon gesehen, was im Land passiert, oder er wollte es nicht sehen. Ich bat ihn, seine persönlichen Ambitionen zugunsten von Angelegenheiten von größter nationaler Bedeutung aufzugeben. Alles Weitere könne dann später entschieden werden. Aber er war nun mal so, wie er war, dieser Prigoschin, mit seinem eisernen Charakter und dem Wunsch, sein Ziel hier und jetzt zu erreichen."

Aufschlussreich ist die Meldung, dass Internet-Trolle, die bisher für Prigoschin im Einsatz waren, nach dessen Tod eifrig die Meinung verbreiteten, Putin habe doch gar kein Motiv gehabt, den Mann beseitigen zu lassen, so eng, wie er angeblich mit ihm "befreundet" gewesen sei. Vielmehr stecke der Westen dahinter, vor allem die Franzosen, die mit der Arbeit von Prigoschin in Afrika unzufrieden gewesen seien, etwa in Mali und im Niger. Das legt den Verdacht nahe, dass der Kreml eilig dafür gesorgt haben könnte, Prigoschins Trollfabrik "Internet Research Agency" unter seine Kontrolle zu bringen.

"Sie versuchen, Menschen nicht zu schockieren"

Die Telegramm-Kanäle, die der Wagner-Truppe nahestehen, äußern sich nach wie vor sehr alarmistisch über die angebliche Unfähigkeit des Kremls und der Militärführung: "Es herrscht das Gefühl vor, dass die Lage abermals bis zum Äußersten gespannt ist, wie vor dem Marsch der Gerechtigkeit [der Rebellion von Prigoschin am 24. Juni], dann entschärften die Ergebnisse des Marsches die Lage zunächst, aber die Ermordung der Wagner-Führung belastet die Situation erneut, wie jeder versteht, der der Front nahe ist. Sie versuchen nur, die Menschen nicht zu schockieren, wollen keine Explosion, aber früher oder später, wenn die Situation an der Front nicht dringend geändert wird, wird sie explodieren. Die Hauptsache ist, dass es nicht zu spät sein darf, obwohl es eigentlich schon jeden Tag zu spät ist, denn jeden Tag sterben mehr unserer Kämpfer durch die eigenen Tyrannen, als wenn sie einen intensiven, aber normal vorbereiteten Kampf führen würden."

Konkret geht es um Begebenheiten in der 205. russischen Brigade, wo einem Kommandeur selbstherrliches Verhalten und Schikane vorgeworfen werden. Er habe einen Kompaniechef in die Psychiatrie einweisen lassen und Soldaten ohne ausreichenden Artillerieschutz auf Inseln im Dnjepr geschickt, wo viele umgekommen seien: "Der Kommandeur hat Angst, die Lage an die Spitze zu melden."

"Wagner"-Energy Drink geplant

Derweil boomt das Geschäft mit Prigoschin-Devotionalien, quer durch Russland sind spontane Gedenkorte entstanden, an denen Blumen niedergelegt und Porträtfotos aufgestellt werden. Ein Hersteller will sogar einen "Wagner"-Energy Drink auf den Markt werfen, nach eigener Aussage aus Begeisterung für die klassische Musik, nicht wegen Prigoschins Tod. Kühlschrankmagnete sind für umgerechnet zwei Euro, T-Shirts für 15 Euro erhältlich, Tassen kosten rund 3,50 Euro. Poster mit Prigoschin-Porträts gehen für stolze 7,50 Euro weg. Zwei große Anbieter gelobten allerdings, die Waren baldmöglichst aus dem Angebot zu nehmen.

Politologe Ilja Ananjew bemerkte, Prigoschin sei bei einfachen Russen offenbar zu "beliebt" gewesen, als dass Putin sich leisten konnte, dessen Tod mit Schweigen zu übergehen. Immerhin habe er den Namen der "grauen Eminenz" zu deren Lebzeiten niemals in den Mund genommen, wie es bei solchen "schattenhaften" Gestalten im Dunstkreis der Macht üblich sei. Nicht mal nach der Rebellion vom 24. Juni hatte Putin Prigoschin namentlich erwähnt. Nach dem Ableben des Unruhestifters habe er diese Geheimnistuerei aus Rentabilitätsgründen aufgegeben: "Deshalb ernannte er ihn zu seinem Freund und betrauerte ihn. Putin wird bei der Beerdigung anwesend sein, so scheint es."

Laut Kremlsprecher Dmitri Peskow gibt es dort übrigens "keine hundertprozentigen Informationen" über Prigoschins Tod. Das lässt Raum für jede Art der politischen Heiligsprechung und eine reichliche Anzahl von Verschwörungstheorien. Was die Bestattung von Prigoschon betrifft, sagte Peskow: "Der Präsident hat einen vollen Terminkalender."

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