"Das Land steuert möglicherweise auf einen größeren Krieg zu", befürchtet der Historiker Saul Friedländer im Mai dieses Jahres, "und die Bevölkerung wurde dazu aufgerufen, ihre Luftschutzbunker zu bestücken und vorzubereiten." Und dann richtet er, wie so oft in diesen Aufzeichnungen, seine Kritik und seinen Zorn gegen Regierungschef Netanjahu, der, um einer Verurteilung wegen Untreue, Betrugs und Bestechlichkeit aus dem Weg zu gehen, sich mit Radikalen, Rechtsextremen und Orthodoxen in der Regierung zusammen getan hat. "Netanjahu hat die Atmosphäre so sehr vergiftet, dass allerorten Misstrauen herrscht."
Rassismus in der israelischen Gesellschaft
Friedländer lebt seit langem in den USA. Er trägt aber Israel in seinem Herzen, zählt zur Gründergeneration Israels. Er spricht von "unserer eigenen Gesellschaft", ist persönlich berührt. Zugleich hat der Historiker aber den nötigen Abstand, ist unabhängig, souverän und bestens vertraut mit der Thematik. So macht er in seinem Tagebuch keinen Bogen um Themen und Begriffe, die in der deutschen Öffentlichkeit tabuisiert sind und deshalb Debatten um Lösungsansätze behindern. Was beispielsweise ist Antisemitismus und was ist berechtigte Kritik an der israelischen Regierung? Im Februar schreibt Friedländer: "Israel ist keine Antwort auf den Antisemitismus; in einigen Fällen verstärkt es den Antisemitismus sogar noch."
Nicht jede Kritik an Israel sei antisemitisch, verdeutlicht er im Mai, Antisemitismus erkenne man, schreibt er, "meist an einem Ton (oder einem Unterton) des blanken Hasses". Friedländer benennt auch Rassismus in der israelischen Gesellschaft. In der Gründungszeit, die er selbst erlebt hat, Rassismus "gegenüber den Einwanderern aus Nordafrika". Heute "blanker Rassismus der schlimmsten Art", wie Friedländer schreibt, gegen Araber.
"Auf dem Weg in eine autoritäre Apartheid-Theokratie"?
Dabei benutzt Friedländer Begriffe, die in Deutschland kürzlich für helle Empörung sorgten. Im März trägt Friedländer in sein Tagebuch ein: "Israel ist auf dem Weg in eine autoritäre Apartheid-Theokratie, so etwas wie eine Mischung aus dem früheren Südafrika und dem heutigen Iran. Zwei Gruppen wetteifern darum, dieses Ziel so schnell wie möglich zu erreichen: die Siedler und die Ultra-Orthodoxen. Eine unheilige Allianz, wie sie im Buche steht."
Friedländer nimmt kein Blatt vor den Mund. Wieder und wieder kritisiert er Netanjahus Bündnis mit vier religiösen Parteien, mit Ultraorthodoxen, Radikalen und Extremisten in einer Regierung. Bezalel Smotrich aus der Partei Religiöser Zionismus beispielsweise, heute der Finanzminister und bekennender Rassist, macht aus seiner Sichtweise kein Hehl. In einer Rede in Paris erklärte Smotrich bei einem Privatbesuch: "Es gibt kein palästinensisches Volk, die Palästinenser sind eine nicht einmal hundert Jahre alte Erfindung. Meine Großeltern waren die wahren Palästinenser".
Rechtsextreme Regierungsmitglieder
Itamar Ben-Gvir von der Partei Jüdische Stärke, heute der Minister für Nationale Sicherheit, sei "die anstößigste und ekelhafteste Figur in dieser ganzen Galerie von Verrückten", urteilt Friedländer. Ben-Gvir spricht sich für die Todesstrafe aus, möchte die Demokratie in Israel zugunsten einer jüdischen Theokratie beseitigen und gilt laut Friedländer als "erklärter Araberhasser". Wer die Extremisten finanziell unterstützt, verrät der Historiker Mitte Februar auch und ihm bleibt am Ende nur Sarkasmus: "Kohelet (…), die ultrarechte libertäre Organisation (…) wird offenbar von zwei amerikanisch-jüdischen Milliardären, Jeffrey Jass und Arthur Dantchik, finanziert, die unter anderem die Randalierer des Sturms aufs Kapitol am 6. Januar 2021 finanziell unterstützt haben. Nette Leute."
Fehleinschätzung der Hamas
Eine tragische Fehleinschätzung unterläuft Friedländer, die zeigt, wie verwirrend und schwer durchschaubar die Gesamtsituation ist. Im Angesicht von Feuergefechten trägt der Historiker am 12. Mai in sein Tagebuch ein: "Interessant ist übrigens, dass die Hamas sich nicht in die Auseinandersetzung einmischt. Sie will die Zivilbevölkerung, für die sie verantwortlich ist, schonen, während der Dschihad ausschließlich auf den militärischen Kampf gegen Israel fixiert ist."
Knapp fünf Monate später wird dieser Glaube durch den Terrorangriff der Hamas, durch das Massaker an jüdischen Zivilisten auf grauenhafte Weise zunichtegemacht. Trotz dieser bitteren Fehleinschätzung nimmt das dem Tagebuch Friedländers aber wenig von seiner Bedeutung.
Flammendes Plädoyer für Vernunft und Frieden
Im ersten Halbjahr 2023, von Januar bis Juli, hat der Historiker seine Einsichten, Analysen, Kommentare und biografischen Notizen zusammengestellt, die unersetzlich sind und auf gedrängtem Raum eine gute Orientierung geben. Der 91-jährige Historiker hat ein flammendes Plädoyer für Vernunft und Frieden verfasst, analytisch, verzweifelt, ratlos, zornig, fesselnd und aufklärend. Viel Stoff zum Nachdenken und Debattieren.
"Saul Friedländer: Blick in den Abgrund. Ein israelisches Tagebuch". Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C.H. Beck Verlag
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