"Alles viel zu kompliziert." - "Keine guten Aussichten. Denn der Terror wird weitergehen und somit auch die Reaktion auf den Terror." - "Natürlich ist das Gesprächsklima hitziger geworden, wie auch die Lage selbst." Das sind Sätze aus dem Jahr 2002, geschrieben vom israelischen Soziologen Natan Sznaider. Sie muten erstaunlich aktuell an, weshalb sie jetzt, 21 Jahre nach ihrer Niederschrift, veröffentlicht werden. Sie entstammen einem E-Mail-Wechsel Natan Sznaiders mit dem deutsch-iranischen Publizisten Navid Kermani, der nun aus traurigem Anlass unter dem Titel "Israel. Eine Korrespondenz" als schmales Buch erscheint.
"Es war so, als wäre es gestern geschrieben worden"
Im Gespräch erzählt Sznaider, dass er Navid Kermani 2002 in Haifa kennenlernte. Aus der Bekanntschaft sei damals rasch eine Brieffreundschaft geworden, in der beide Autoren durchaus kontrovers über den Nahost-Konflikt diskutierten. Zwei Tage nach dem von der Hamas verübten Massaker am 7. Oktober dieses Jahres telefonierte der in Köln lebende Kermani mit dem in Tel Aviv lebenden Sznaider: "Navid rief natürlich an, um zu erfahren, wie es mir, meiner Frau, unserer Tochter geht. Wir sprachen über das Entsetzen und das Furchtbare, das wir eigentlich noch gar nicht in Worte fassen können. Und dabei erinnerten wir uns an unseren E-Mail-Verkehr von 2002, an die zweite Intifada und den Terror der Hamas damals schon."
Beide hätten in ihren Computern die 21 Jahre alten Mails noch finden können und beim erneuten Lesen seien sie "beide schockiert" gewesen, wie sehr sie ihre damalige Diskussion an die heutige erinnerte: "Es war so, als würden wir einen Briefwechsel von gestern oder vorgestern lesen. Die Zeit schien uns eingefroren zu sein, als wäre fast nichts passiert in all den Jahren. Ich dachte, ich glaube es nicht." Nichts sei für die Veröffentlichung nachträglich redigiert worden, versichert Sznaider.
Der "Zivilisationsbruch" des 7. Oktober
Gleichwohl, betont Sznaider im Interview, hat der Israel-Palästina-Konflikt mit der "Zäsur", dem "Zivilisationsbruch" des 7. Oktober seiner Meinung nach eine "völlig neue Dimension bekommen". Sznaider schreibt 2002 vieles, was einen an die Fernsehbilder unserer Tage denken lässt: von der "Blutlust" der palästinensischen Terroristen etwa, die "Leichen durch die Straßen ziehen".
Die Hamas-Terroristen zwangen ihn schon seinerzeit, die Position des Beobachters aufzugeben und zum Teilnehmer zu werden. Die Qualität dieses radikal ehrlichen Austauschs liegt in seiner Offenheit. Sznaider redet Tacheles. Er gibt unumwunden zu, dass es ihm nicht möglich ist, die Palästinenser als "unschuldige Opfer" zu betrachten.
Das sei heute im Angesicht des Mordens, des Abschlachtens vom 7. Oktober ganz ähnlich, sagt der 69-jährige im Gespräch: "Das Ziel dieses Gemetzels war es, jüdisches Leben brutal auszulöschen. Damit bin ich, damit ist meine Familie, damit sind meine Freunde gemeint. Das nimmt den ganzen Körper und die gesamte Seele ein." Da falle es ihm mehr als schwer, sich in einem "selbstlosen Universalismus" zu üben und das Leiden der anderen zu sehen: "Das ist so eine abgehobene moralische Heiligkeit, die ich einfach nicht habe. Kann sein, dass mir da was fehlt."
"Das ist nicht mehr Teil des Teufelskreises von Gewalt und Gegengewalt"
Die von Sznaider befürchtete "moralische Arithmetik der gegenseitig begangenen Grausamkeit" ist in vollem Gange und führt zu einem Aufrechnen der Opferzahlen. Es ist frappierend, wenn man in den alten Mails des in Mannheim geborenen Sznaider vom "Kreislauf von Anschlag, Vergeltung, Anschlag, Vergeltung" liest.
Befinden wir uns nicht exakt in derselben Lage heute? Sznaider ist überzeugt: "Was am 7. Oktober passiert ist, ist nicht mehr Teil dieses Teufelskreises. Das hat eine neue Dimension. Der Versuch, das zu kontextualisieren, zu historisieren, in die lange Geschichte der israelischen Besatzung mit einzubauen, mag die Aufgabe des Intellektuellen sein, aber es macht nach dem 7. Oktober für mich keinen Sinn. Das war ein Einschnitt. Dieser Tag steht außerhalb des Kreislaufs von Gewalt und Gegengewalt, außerhalb der Geschichte. Es war eine Attacke des Bösen." Die Pietät gebiete es – sein Freund Navid Kermani habe das auch geschrieben – jetzt einmal innezuhalten: "Vielleicht etwas weniger sprechen und etwas mehr schweigen."
"Nazi-Vergleiche bringen uns nicht weiter"
Elfriede Jelinek, die österreichische Literaturnobelpreisträgerin, hat dieser Tage auf ihrem Blog den Terror der Hamas mit dem der Nazis verglichen. Nazi-Vergleiche sind auch auf der Seite von Palästinensern mit Blick auf die israelische Regierung beliebt. Natan Sznaider hält sie hier wie da für sinnlos: "Der Text von Elfriede Jelinek ist wunderbar, aber die Nazi-Vergleiche versuchen, Dinge einzuordnen, die nicht einzuordnen sind. Sie bringen uns nicht weiter. Die Hamas ist keine Nazi-Organisation, die Hamas ist die Hamas. Aber sie hat sich auch auf die Fahnen geschrieben, jüdisches Leben zu vernichten."
Im Angriff vom 7. Oktober sieht Sznaider darüber hinaus indes einen Generalangriff auf den westlichen Lebensstil: "Das war ein Rave dort, wo fröhliche, ihre Sexualität auslebende junge Menschen miteinander getanzt und gefeiert haben. Der eliminatorische Dschihadismus der Hamas wollte diese lebensbejahende Freude vernichten."
Was ein Israeli über die deutsche Debatte denkt
"Rührend sind sie ja schon, die deutschen Gutmenschen", schreibt Sznaider am 6. April 2002 an Navid Kermani einigermaßen sarkastisch, als Letzterer ihn etwas von oben herab belehren will, wie man zum Israel-Palästina-Konflikt zu stehen habe. Ein leichter Seufzer entfleucht ihm, dem in Tel Aviv Lebenden und Lehrenden, heute angesichts der gegenwärtigen deutschen Debatte über den Krieg Israels gegen die Hamas: "Wie halt oft deutsche Debatten laufen: Man fährt sich fest, man schimpft aufeinander. Am merkwürdigsten finde ich die Leute, die behaupten, dass man sie nicht reden lässt und die gleichzeitig gar nicht mehr aufhören zu reden."
Eine unverhohlene Anspielung auf Deborah Feldman, die – obwohl gern gesehener Talkshow-Gast und eifrig publizierende Autorin - in einem Artikel im "Guardian" beklagt hatte, dass israelkritische Positionen in Deutschland weder Bühne noch Gehör fänden: "Das stimmt ja gar nicht. Ist aber typisch gerade für ein bestimmtes progressives deutsches Milieu, so etwas zu behaupten. Sich auf der einen Seite verfolgt zu fühlen und auf der anderen Seite Schlüsselstellungen in den Kultur-Institutionen inne- und also das Sagen zu haben, passt nicht zusammen."
Spott über deutschen "Gesinnungsgehorsam"
Sznaiders Briefpartner Navid Kermani wiederum schreibt 2002 höhnisch über den deutschen "Gesinnungsgehorsam" und spottet über "die Leitartikler und die von historischem Bewusstsein nur so taumelnden Feuilletonisten". Auch das sind in all ihrer Polemik erhellende Passagen dieses E-Mail-Wechsels, der ein, nie für die Öffentlichkeit bestimmtes, Zwiegespräch nun mutig in eben diese trägt. Zu Recht schreiben Kermani und Sznaider in ihrem gemeinsamen Vorwort, dass die Publikation das Risiko berge, "missverstanden zu werden" in Zeiten der stets skandalisierungsbereiten sozialen Medien. Zu oft werden dort einzelne Sätze aus dem Zusammenhang gerissen und angeprangert.
Das könnte auch Navid Kermanis am 7. April 2002 verfassten Satz betreffen: "Sobald irgendwo eine Bombe hochgeht, müssen alle Muslime ihren Abscheu hier zwangserklären." Aber zeugen nicht die Videobotschaft Robert Habecks und die jüngst ergangene Aufforderung des Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier an alle Arabischstämmigen und Muslime in Deutschland, sich vom Terror der Hamas zu distanzieren, von genau dem Bekenntniszwang, den Kermani kritisiert?
Sznaider sagt, angesprochen auf diese auffällige Parallele zur Gegenwart: "Das ist zwar nicht schön, von den muslimischen Mitbürgern zu erwarten, dass sie sich von der Hamas distanzieren. Jeder sollte sich eigentlich von der Hamas distanzieren. Gleichzeitig verstehe ich es angesichts der vielen Pro-Hamas-Demonstrationen, dass solche Forderungen gestellt werden. Es gibt Situationen, in denen es ein bestimmtes Wir gibt und ein bestimmtes Ihr." Und es ist heute so wie damals 2002: Die entschiedene militärische Antwort Israels auf die Terror-Attacke der Hamas "setzt ganz bewusst die globale Sympathie aufs Spiel". An Israel, so schreibt es Natan Sznaider bereits 2002 sehr hellsichtig, würden aufgrund seiner Gründungsgeschichte besondere Maßstäbe angelegt. Es trage seit jeher die Verantwortung, "ein besonders moralischer Staat sein" zu sollen.
Natan Sznaider/Navid Kermani: Israel. Eine Korrespondenz. Hanser. 10 Euro
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