Karl, Carlos, Charles V, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, ein Habsburger, bei dem gleich vier Erbreiche zusammenkamen, katholischer Führer des Abendlands zwischen Osmanen-Kriegen und Reformation. Dieser Karl interessiert Buchpreisträger Arno Geiger nicht. Oder jedenfalls nur als Vorleben des Menschen, der schließlich diese seine höchste Position freiwillig aufgab. Was dann? 1556 zog Karl V. sich von seinen Ämtern in ein Kloster im spanischen Cuacos de Yuste zurück. Und dort treffen wir ihn als die zentrale Figur in "Reise nach Laredo": einen ausgelaugten, mürrischen, von sieben Krankheiten zerfressenen und einsamen alten Mann, der kein König mehr ist.
Loslassen lernen – als Kaiser und als Künstler
Genau der sei "sein Karl", sagt Arno Geiger: "Er ordnete sich diesen Ämtern unter und dann sagt er: Schluss, ich mag nicht mehr." Und: "Das sind schwere Kronen, die er da vom Kopf herunternimmt." Die Fallhöhe ist kaum zu übertreffen für dieses Thema: das Loslassen nämlich. Das Zurücktreten. Die Frage, was danach kommen kann. Tizian, Karls Hofmaler, von dem mehrere Porträts des Kaisers existieren, hat seine eigene Weisheit dazu, die er seinem Herrscher bei einer Porträtsitzung mitgibt. Der letzte Pinselstrich, meint Geigers Tizian, sei eigentlich immer überflüssig.
Und da ist er dem Autor sehr nahe: Auch als Künstler müsse man loslassen können, so Arno Geiger im Gespräch mit BR. Und gibt einen kleinen Einblick in die Werkstatt. Ein Freund des Überarbeitens sei er nicht, bekennt der Schriftsteller: "Ich mache dann schon noch diese zwei, drei Pinselstriche, aber dann ist das Aufhören wichtig, um die Lebendigkeit des Geschaffenen zu bewahren."
Flucht bei Nacht
Und dann ist sie da, die Chance für das Neue. Arno Geiger lässt den 58-jährigen, todgeweihten Karl, um den sein Hofstaat nur noch abwartend herumschleicht, eines Nachts die Flucht ergreifen. Das ist zwar medizinisch völlig unplausibel und beim Lesen wird man lange im Ungewissen gelassen über den Charakter dieses Ausbruchs, aber am Ende ist der auch ganz unwichtig. Wichtig ist die Freiheit, die Geiger dem pflichtverknöcherten Karl zuwachsen lässt.
Gemeinsam mit dem 11-jährigen Geronimo, der nicht weiß, dass er ein illegitimer Sohn des Alten ist, schickt er ihn ins Abenteuer, in gefährliche Schlägereien und brutale Gegenden, sie retten zwei Unschuldige, erreichen die tote Stadt, finden eine unheimliche Herberge und ein Wundertier, bis sie schließlich ans Meer kommen. Ein ungleiches Paar – und ein Kontrast, der es dem Autor angetan hat, wie Geiger bekennt: "Dieser Mann, der immer an Vergangenheit und Zukunft denken muss, und dieser 11-Jährige, der sich jeden Morgen freut auf das, was der Tag bringt."
Auch eine Gewissensfrage
Und Karl, der frühere Kaiser, stellt im Roman mit Blick auf seinen jungen Begleiter fest: "So war ich nie, so frei, so unabhängig. Vielleicht könnt' ich’s jetzt, für einige Augenblicke, für drei Tage, das wäre immerhin etwas. Kann man Unbeschwertheit lernen? Wird man so geboren? ... Wäre das gut? Will ich tanzen oder kotzen?"
Arno Geiger beantwortet diese Frage im Roman durch den Roman mit: JA, Ausrufezeichen! Tanzen! – und Kotzen auch. Nicht der Rückzug in Kontemplation und Selbstbefragung, den Karls Beichtvater ihm nahelegt, hilft dem König ohne Krone weiter mit sich selbst, es ist die Begegnung mit der Welt. Das macht die "Reise nach Laredo" erneut zu einem sehr persönlichen Buch dieses ungewöhnlichen Autors. Man kann das einen historischen Roman nennen, denn er ist ja fraglos im 16. Jahrhundert verortet, historische Figuren treten auf, und Tizians Gemälde lassen sich im Museum anschauen. Aber das Herz dieses Buchs schlägt zeitlos.
"Reise nach Laredo" von Arno Geiger ist im Hanser Verlag erschienen, für 26 Euro.
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