Was macht das Menschsein aus? Welche Verbindungen, welche einschneidenden oder scheinbar nebensächlichen Momente im Leben machen uns zu dem, was wir sind, was wir werden? Es sind die großen Fragen, die sich im Alltäglichen verbergen, denen der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda in seinen Filmen auf den Grund geht. Oft stehen Familien im Zentrum seiner zutiefst humanistischen Gesellschaftsporträts. Oft sind es Kinder, die Dinge hinterfragen, die Erwachsene nicht wahrnehmen.
In "Die Unschuld", seinem neuen, in Cannes mit dem Drehbuchpreis ausgezeichneten Melodrama, wird die handlungsbestimmende Frage ein ums andere Mal gestellt: Wer ist das Monster in dieser Geschichte, die auf den ersten Blick von Mobbing handelt? Final beantwortet wird sie nie. Weil es um weit mehr geht als ein abschließendes Urteil. Und weil manche Aspekte im Leben so komplex sind, dass sie laufend hinterfragt werden müssen. Entsprechend verschachtelt ist der Aufbau von "Die Unschuld".
Was ist die Wahrheit?
Unvermittelt und von Anfang an leicht rätselhaft beginnt der Film, der in einer Kleinstadt in Japan spielt. Das Dach eines Hochhauses steht in Flammen, aus sicherer Distanz beobachten eine Mutter und ihr elfjähriger Sohn die in den Nachthimmel züngelnden Flammen. Ihr Verhältnis ist liebevoll, für den verstorbenen Ehemann und Vater haben sie einen kleinen Altar in einer Wohnzimmernische errichtet. Die Lücke, die er hinterlassen hat, ist groß, die Bindung zwischen Mutter und Sohn dafür umso enger.
Als sich Minato von heute auf morgen seltsam zu verhalten beginnt, schrillen bei ihr alle Alarmglocken. Er schneidet sich die Haare ab, treibt sich nachts in einem Waldstück herum, wirft sich aus einem fahrenden Auto. Auslöser scheint ein Lehrer zu sein, der Minato beschimpft und geschlagen haben soll – so zumindest schildert es der Junge seiner Mutter nach längerem Drängen. Aber ist das wirklich die ganze Wahrheit?
Angedeutetes kommt plötzlich zum Vorschein
Statt die Geschichte chronologisch weiterzuerzählen, springt Kore-eda an den Anfang zurück. Diesmal schlendert Minatos Lehrer mit seiner Freundin an dem brennenden Hochhaus vorbei, sagt vorbeirennenden Schülern, dass sie nach Hause gehen sollen, erscheint bestimmt, aber fürsorglich. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto klarer wird, was später an der Schule vorgefallen ist: Nicht Minato ist das Mobbing-Opfer, der Junge selbst mobbt einen Mitschüler – so jedenfalls nimmt es der Lehrer wahr. Doch auch diese Geschichte steckt voller Halbwahrheiten.
Die volle Dimension der Ereignisse eröffnet sich im letzten und emotionalsten Teil, der wieder die Perspektive wechselt und die Sicht des Jungen schildert. Erneut werden Zusammenhänge und Charakterzüge klarer und der bislang nur angedeutete Kern der Geschichte wird freigelegt. Sensibel arbeitet Kore-eda heraus, wie schwer es für Heranwachsende sein kann, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.
Insbesondere dann, wenn die Menschen, die ihnen Orientierung bieten sollen, selbst gefangen sind in einem Korsett aus Konventionen, und mit Abweichungen, etwa von Geschlechterrollen, nicht umgehen können. Für sein Handeln verurteilt wird niemand in diesem meisterhaft erzählten Gesellschaftsbild. Denn Fehler gehören zum Leben dazu. Allerdings, so die Botschaft des Films, ist es nicht damit getan, sich zu entschuldigen – sondern daraus zu lernen und gemeinsam einen Ausweg zu finden.
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