Hebräische Auflagen des Kinderbuches "Heidi".
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Hebräische Auflagen des Kinderbuches "Heidi", das Buch rechts stammt aus dem Jahr 1981.

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Ein Stück verlorene Heimat - Heidi in Israel

Ein Stück verlorene Heimat - Heidi in Israel

Die Geschichte des Waisenkindes Heidi gehört zu den bekanntesten Kinderbüchern der Welt und wurde in mehr als 70 Sprachen übersetzt. Eine Ausstellung in München zeigt, welche Bedeutung das Buch in Israel hat und welche Rolle die Übersetzung spielt.

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Als die Schweizer Autorin Johanna Spyri "Heidis Lehr- und Wanderjahre" im Jahr 1880 anonym veröffentlichte, hatte sie bestimmt nicht damit gerechnet, dass das Buch einmal zu den einflussreichsten Kinderbüchern der Welt zählen würde.

Die ursprünglich zwei Bände über die Geschichte des Waisenkindes wurden bereits zwei Jahre nach Erscheinen in sechs Sprachen übersetzt, 1920 sogar schon ins Japanische. Seit dem Auslaufen der Urheberrechte im Jahr 1931 sind mehr als 60 Millionen Exemplare in mehr als 70 weiteren Sprachen übersetzt worden. "Heidi" gehört damit zu den bekanntesten Werken der Weltliteratur.

Erste hebräische Übersetzung im Jahr 1946

Was aber macht die Rezeptionsgeschichte von Heidi in Israel anders als in den vielen anderen Ländern? Darum geht es in der Ausstellung "Heidi in Israel", die derzeit im Jüdischen Museum in München zu sehen ist.

"Heidi ist eine weltbekannte Figur, Menschen auf der ganzen Welt können sich mit ihr identifizieren. Das Besondere in Israel ist aber die Zeit, in der diese erste hebräische Übersetzung entstand", sagt Nurit Blatman, die Kuratorin der Ausstellung.

Die erste hebräische Übersetzung von Heidi erschien in Israel nämlich 1946 - also genau zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 und der Gründung des Staates Israel 1948. Einer sehr schwierigen Zeit für die jüdische Geschichte.

"Dass genau zu dieser Zeit ein Buch aus dem deutschen Sprachraum ins Hebräische übersetzt wird, ein Buch, in dem es um Themen wie Heimatverlust, Waisenkind-Erfahrung, Identitätsfindung geht - all diese Themen, die zu dieser Zeit so eine zentrale Rolle gespielt haben. Deshalb wird das Buch in Palästina* und später Israel unglaublich erfolgreich." Nurit Blatman, Kuratorin der Ausstellung "Heidi in Israel" (*Mandatsgebiet Palästina vor Gründung des Staates Israel)

Viele Parallelen zu den Menschen in Israel

In dem Kinderbuch finden sich viele Parallelen zu den Menschen, die zum Zeitpunkt der ersten Übersetzung in Israel gelebt haben. Da ist zum einen der schweigsame und über seine Vergangenheit verbitterte "Alm-Öhi". Das Schweigen über das Erlebte haben damals auch viele Kinder von ihren Eltern und Großeltern erfahren.

Rund um das Jahr 1946 gab es zudem viele Waisenkinder. Bis 1939 konnten tausende Kinder jüdischer Herkunft durch die sogenannten "Kindertransporte" von den Nationalsozialisten gerettet werden. Ohne Eltern oder andere Angehörige sind sie per Schiff nach Israel gekommen und wurden meist in Kibbuzim oder Jugendeinrichtungen untergebracht. Viele dieser Kinder waren oft die einzigen Überlebenden und haben, wie Heidi, ihre Eltern nie wieder gesehen.

Heidi musste gegen ihren Willen nach Frankfurt und ihre Heimat, die Berge, zurücklassen. Auch den meisten Menschen in Israel ging es zum Zeitpunkt der hebräischen Erstausgabe so, denn auch sie mussten ihre alte Heimat unfreiwillig verlassen.

Eine große identitätsstiftende Rolle spielten in den Jahren rund um die Staatsgründung auch die Natur und landwirtschaftliche Arbeit. Idealisiert wurde dabei auch das Gemeinschaftsleben im landwirtschaftlichen Kibbuz, das als wünschenswerte Alternative zum Leben in der Großstadt galt. Die Natur und die landwirtschaftliche Arbeit stand symbolisch für das zurückgelassene Europa.

Hinzu kommt: Die Schweiz, die vom Zweiten Weltkrieg vom Krieg verschont bliebt, war auch in Israel ein Sehnsuchtsort und Inbegriff einer heilen Welt.

"Heidi, Tochter der Alpen" - Einzigartiger Titel in der Übersetzungsgeschichte des Buches

Kein Wunder also, dass die erste Übersetzung ins Hebräische von dem Gymnasiallehrer Israel Fishman im Jahr 1946 unglaublich erfolgreich geworden ist. Die Übersetzung wurde noch bis in die 1970er-Jahre verlegt, als es schon längst neue Übersetzungen und Dutzende andere Auflagen gab.

Ein Grund für diesen Erfolg könnte auch der Titel sein, denn das Kinderbuch heißt in der ersten hebräischen Übersetzung nicht einfach nur "Heidi", sondern "Heidi, Bat HaAlpim" - also 'Heidi, Tochter der Alpen'.

"Die drei kleinen Wörter im Titel können uns erstaunlich viel über den Zeitgeist, über die Vorgänge im Land sowie über die kulturhistorische Situation verraten", schreibt dazu Blatman. Denn es sei vor allem das mittlere Wort "Bat", das überrascht und einen Titel kreiert, der in der 140-jährigen Übersetzungsgeschichte des Buches einzigartig sei.

Die Konstruktion "Tochter der" ('Bat') oder "Sohn des" ('Ben') ist sehr geläufig in der religiösen Namensgebung im Judentum. Viele Einwanderer aus Europa haben sich an dieser alten biblischen Form orientiert und sich nach diesem Vorbild einen neuen hebräischen Namen gegeben. So wurde aus David Grün beispielsweise David Ben-Gurion (und dann der erste israelische Ministerpräsident).

Ein Stück verlorene Heimat

Doch zurück zu Heidi: Fishman setzte da, wo üblicherweise der Name des Vaters oder der Mutter stehen würde, die Alpen ein. Damit wird die innige Beziehung des Kindes zu den Alpen - der zentrale Aspekt des Buches - schon im Titel aufgegriffen.

Doch es gibt dafür noch einen weiteren Grund, weiß Nurit Blatman: "Hier scheint der Übersetzer sich gezielt an sein Lesepublikum der damaligen Zeit gerichtet zu haben, indem er nicht nur allgemeine Berge nimmt, sondern die europäischen Alpen, die der Leserschaft dieser Zeit sehr viel bedeutet haben." Viele sind in diesem Alpenraum aufgewachsen, mussten diesen Raum verlassen und hätten durch dieses Buch ein Stück verlorene Heimat zurückbekommen, so die Kuratorin.

"Sie konnten ein bisschen etwas davon zurückbekommen, was sie verloren haben. Bei den Alpen im Titel klingt so ein bisschen alte Heimat mit." Nurit Blatman, Kuratorin

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Aus "Heidi, Tochter der Alpen" wird "Heidi, Tochter der Berge"

Ab 1920 entwickelte sich das Neuhebräische in Israel rasend schnell. Aus der ehemals biblischen Sprache ist eine Alltagssprache geworden. Doch gerade in den ersten Büchern und Übersetzungen in den ersten Jahrzehnten nach Staatsgründung erkennt man noch den Einfluss der ehemaligen Bibelsprache. Genau das ist auch der Grund, warum "Heidi" in Israel so oft neu übersetzt worden ist. "Wir haben ungefähr 30 verschiedene Ausgaben gefunden", erzählt Nurit Blatman.

In den neuen Übersetzungen ab den 1950er-Jahren wurde dann auch der Titel geändert. Fortan hieß das Kinderbuch: "Heidi, Bat HeHarim" -'Heidi, Tochter der Berge' - ein Titel, der bis heute aktuell bleibt.

Aber auch darin spiegelt sich die besondere gesellschaftliche Situation in Israel wieder: "Da sieht man auch gut die Entwicklung, dass sich zu dieser Zeit langsam ein eigenes, israelisches Selbstverständnis entwickelt. Das Publikum sind nicht mehr nur diejenigen, die ihre Heimat verlassen mussten, sondern die erste Generation, die in Israel geboren wird und aufwächst", erläutert Blatman. Denn die Kinder, die ab den 1950er-Jahren in Israel geboren wurden, hätten weniger mit dem Alpen-Begriff anfangen können als ihre Eltern. Und "Berge" gebe es überall, das sei etwas Allgemeines.

Neue Namen für positive Figuren - nur das strenge "Fräulein Rottenmeier" bleibt deutsch

Eine weitere Besonderheit in der ersten hebräischen Übersetzung von 1946 sind die Namen der Protagonisten. Sie wurden von einer vorherigen französischen Übersetzung übernommen. So wird aus der positiv besetzten Figur des Geißenpeter beispielsweise "Pierre". Auch die nette Familie Sesemann aus Frankfurt bekommt einen französischen Familiennamen: Gérard. Doch ausgerechnet das strenge Fräulein Rottenmeier behält ihren deutschen Namen.

In den nachfolgenden hebräischen Übersetzungen ab den 1950er-Jahren werden diese Namen allerdings wieder zurückgenommen und bis heute die Original-Namen von Johanna Spyri verwendet.

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Kuratorin Nurit Blatman aus Zürich.

Warum ist Heidi noch immer so erfolgreich?

Das Kinderbuch ist nicht nur in Israel bis heute beliebt, sondern in nahezu allen Ländern der Welt. Woran liegt das? Ist die Geschichte nach 140 Jahren nicht altmodisch geworden? Peter Büttner vom Kulturprojekt Heidiseum in Zürich ist davon überzeugt, dass "Heidi" immer und überall aktuell bleiben wird.

"Der Text funktioniert in allen Kulturen, deswegen ist er auch immer aktuell. Er behandelt Themen, wie zum Beispiel 'Heimat' - Wo gehöre ich hin, wo bin ich zu Hause? - 'Identität' - Wo ist meine Familie? Das sind einfach Themen, die in allen Kulturen relevant sind. " Peter Büttner, Heidiseum in Zürich.

Die Ausstellung "Heidi in Israel - Eine Spurensuche" ist noch bis 16. Oktober 2022 im Jüdischen Museum in München zu sehen.

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