"Moralkeule Auschwitz": In Martin Walsers Paulskirchen-Rede hat sich schon 1998 der Unwille gegen die Beschwörung des "Nie Wieder" Luft gemacht, mit der die Deutschen die Notwendigkeit einleiten, ihre Gewaltgeschichte zu erinnern. Von da an gab es immer wieder viel Kritik an der hierzulande angeblich übertriebenen Erinnerungskultur der Deutschen. Spätestens aber als AfD Rechtsaußen Björn Höcke das Holocaust Mahnmal in Berlin als "Denkmal der Schande" verunglimpfte, wurde unübersehbar: Hierzulande bröckelt der breite gesellschaftliche Konsens, dass wir unsere Gewaltgeschichte erinnern müssen.
Grenzübergreifende, internationale Erinnerungsprojekte
In diesem Sommer, beim Wahlkampf in Bayern und der Aiwanger-Debatte sah Mirjam Zadoff, die Leiterin des Münchner NS-Dokumentationszentrums, diesen Konsens "massiv weiter bröckeln", wie sie im BR sagte. Die deutsche Erinnerungskultur sei aber, das gerät nach Zadoff leicht aus dem Blick, "eigentlich kein institutioneller Prozess" gewesen, "sondern ein die Erinnerungen Erkämpfen durch Überlebende, die gefordert haben, dass es juristische Aufarbeitung gibt, die erzählen wollten, die Platz schaffen wollten für ihre Trauer und für ihr Trauma. Und gleichzeitig eben auch eine Verantwortung, die von den Alliierten von Deutschland eingefordert wurde, zu reagieren".
Video: Sondersitzung zur Flugblattaffäre um Minister Hubert Aiwanger
Nicht etwa Deutsche, die sich allzu gern in der eigenen Schuld suhlen, wie zuweilen kolportiert, haben hiernach die nötige Erinnerungskultur angestoßen, sondern Überlebende aus Polen, aus vielen Teilen Europas, die hierhergekommen sind und gefordert haben, dass man die Gewaltgeschichte erzählt. "Das war der Einfluss von Historikerinnen, die geflohen sind aus Europa und dann in USA eine Geschichte geschrieben haben des Nationalsozialismus, die man hier erst einmal gar nicht hören wollte. Dieser grenzübergreifende Austausch ist extrem wichtig, dass man unterschiedlichen Zugängen Raum gibt".
Instrumentalisierung der Erinnerung
Das bewusste Erinnern von Gewalt gehe – das zeigt Mirjam Zadoff in ihrem Buch – auch mit dem Wunsch einher, Lehren für die Zukunft zu entwickeln. Gleichzeitig sei das Erinnern sehr anfällig für Instrumentalisierung von eigenen Interessen. Als Beispiel nennt die Historikerin die Erinnerungspolitik in Polen unter der PiS Partei. Die Regierung in Polen, die bis zum 15.10.2023 amtiert hat, habe sich die Geschichte ganz weit oben auf ihre Agenda gesetzt, und zwar, die Geschichte auch neu zu erzählen. "Und diese andere Erzählung ist eben zum einen das ja durchaus gerechtfertigte Sprechen über das polnische Leid im Zweiten Weltkrieg, das auch groß und massiv war und wichtig ist zu erinnern, aber eben gleichzeitig die Instrumentalisierung und Vereinnahmung des Holocausts und des jüdischen Leides", so Zadoff.
Dieser Instrumentalisierung der Erinnerung auf nationale Interessen – vulgo Geschichtsklitterung – wird durch das Konzept einer globaleren Erinnerung, wie Zadoff sie einfordert, Einhalt geboten. Durch die Hinzuziehung der Gewalterfahrungen der anderen können aus Erinnerungsprojekten Zukunftskonzepte entstehen. "Zukunft hat immer ganz viel damit zu tun, dass man sich ein gemeinsames Leben vorstellt", so Zadoff. "Wenn ich nicht in der Lage bin zu erinnern, dann kann ich mir auch keine Zukunft vorstellen. Ich weiß ja nicht: Ich weiß weder, was sind die, was sind die Red Flags, wo wird es gefährlich? Ich weiß aber auch nicht, was sind gute Formen des Zusammenlebens? Das fehlt ja dann völlig."
Gewalterfahrungen seit dem Hamas-Terror vom 7. Oktober
Beim Thema Gewalterfahrungen denkt man im Augenblick sofort an den aktuellen Krieg im Nahen Osten, von dem Mirjam Zadoff in dieser Zuspitzung natürlich noch nichts wissen konnte, als sie das Buch geschrieben hat. Und noch kann die Historikerin auch nicht beurteilen, ob es irgendwann einmal möglich ist, dass beide Seiten ihre Gewalterfahrungen erzählen lassen, ohne einander zu relativieren.
Aus der akuten Situation heraus sei es sehr schwer zu sagen, was passieren wird. "Wir wissen ja auch gar nicht, wie dieser Krieg jetzt weitergeht. Was wir sehen ist, dass es in Israel viele Stimmen gibt, die versuchen, eben diese Einordnung dieser brutalen Gewalt vom 7. Oktober vorzunehmen, dieses Massakers, dessen Dimension wir ja jetzt erst langsam begreifen, was da alles passiert ist. Wie nennt man das? Nennt man das 'Den schwarzen Schabbat', nennt man das 'Das Massaker vom 7. Oktober'? Wie erzählt man, wer erzählt?" Und es gebe Stimmen, so Zadoff weiter, die forderten Rache, Krieg. Und es gebe viele Stimmen gerade der Angehörigen von Menschen, die ermordet wurden oder in Geiselhaft genommen wurden: "Die sagen, wir brauchen eigentlich einen Frieden, weil wir sonst nie sicher sein werden und weil meine Angehörigen das gewollt hätten".
Gemeinsame Erinnerungsprojekte in Israel
Seit es den Nahostkonflikt gibt, gebe es diese unterschiedlichen Geschichtserzählungen in unterschiedlichen Wahrnehmungen. Aber es habe auch immer gemeinsame Projekte gegeben. "Einmal im Jahr treffen sich zum Beispiel Familien palästinensischer Israelis und jüdischer Israelis, die Angehörige in den Kriegen verloren haben. Und sie trauern gemeinsam. Aus einem akuten Konflikt eine gemeinsame Erinnerung zu finden, ist fast unmöglich.
Es werde aber eine große Aufgabe für die Zukunft sein, wenn vielleicht – und das sei natürlich die Hoffnung, die immer noch besteht – irgendwann dieser Konflikt gelöst werden wird. "Und das impliziert ja erst einmal, den militärischen Konflikt zu lösen. Das impliziert", so Zadoff, "dass die Hamas als Terrororganisation weg muss, ihren Einfluss verlieren muss und dann diplomatische Lösungen gefunden werden und man dann sich die Frage stellt: Wie können wir denn eigentlich gemeinsam weitermachen?"
Mirjam Zadoff: "Gewalt und Gedächtnis. Globale Erinnerung im 21. Jahrhundert" ist im Hanser Verlag erschienen.
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