Er wolle vor sich selbst als Mensch dastehen, nicht als gesichtsloser Beamter, schreibt Boris Bondarew im Vorwort zu seinem Buch "Im Ministerium der Lügen": "Ich wollte meine Berufsehre wahren." Boris Bondarew war einer der wenigen russischen Diplomaten, die ihren Dienst nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 quittiert haben.
Bondarews persönlicher Preis des Ausstiegs
Das war ein schwerer Schritt, sagt Bondarew. Denn man habe nicht wissen können, was auf einen zukomme. Andererseits: "Die ganze Zeit in dieser Atmosphäre der Lügen leben nach dem Motto 'Wir werden siegen', 'Diese verdammten Angelsachsen', 'Wir kämpfen gegen die Nato', und bloß nichts sagen, bloß kein skeptischer Blick – das wäre furchtbar", so Bondarew heute.
Der Preis für Aufrichtigkeit und Anstand ist hoch: Boris Bondarew muss mit seiner Frau in der Schweiz unter Polizeischutz leben, er hat seine Arbeit verloren, viele Freunde. Sein Vater lebt in Moskau, die Propaganda hat die Familie auseinandergerissen. "Mein Vater unterstützt Putin", erzählt Bondarew, "er wollte in die Armee, er wollte kämpfen, aber er ist 75 Jahre alt, deshalb haben sie ihn nicht genommen."
Russland: Ein System alternativer Realität
In seinem Buch "Im Ministerium der Lügen" erzählt der 44-jährige Diplomat zunächst von seiner Familie. Seine Eltern sind privilegiert, der Vater macht im Außenhandelsministerium Karriere, 1984 landen sie in Zürich. Ein Traum, der allerdings nicht lange währt: Der Vater schlägt eine Transaktion an der Börse vor, das "Go" aus Moskau kommt nach Wochen, der Deal findet zu unterdessen völlig anderen Marktbedingungen statt und entpuppt sich als Fehlinvestition, woraufhin der Vater abberufen wird. Ein struktureller Klassiker der Sowjetunion, später auch Russlands.
Der Sohn kommt 2019 als russischer Diplomat nach Stationen in Kambodscha und der Mongolei zurück in die Schweiz, zum Büro der Vereinten Nationen in Genf. Eine russische Außenpolitik gibt es zu diesem Zeitpunkt allerdings schon nicht mehr, so Boris Bondarew. Worum es gehe, das seien nicht unbedingt Lügen im direkten Sinne, es sei ein System alternativer Realität: "In dieser Realität haben wir immer Recht. Alle, die abweichender Meinung sind, liegen falsch. Alle Diplomaten müssen nach Moskau berichten, wie wir unsere Interessen voranbringen, wie wir vorne liegen bei Verhandlungen. Überall eine wunderbare Lage. Auf dieser Grundlage werden dann weitere Entscheidungen getroffen."
"Der Präsident weiß alles"
Russischer Selbstbekräftigungsfuror, der auch in Putins Entscheidung, die Ukraine zu überfallen, hineingespielt hat. Alle kniefällige Ergebenheit ist Boris Bondarew zufolge in der russischen Machtvertikale begründet. Selbst wenn Außenminister Sergej Lawrow nicht an das glaube, was er sage – was durchaus wahrscheinlich sei – dann denke er vermutlich doch: Putin wird es besser wissen, denn: "Der Präsident weiß schließlich alles. Wenn Putin verlangt, dass wir das so sagen, dann sagen wir das so. Die Leuten wollen in Ruhe und in Wohlstand leben, wenn man dafür lügen oder sich etwas ausdenken muss, dann machen sie das."
Das Kapitel über die Ausreden der russischen Beamten, ihre Tricks und Einschüchterungs-Rhetorik oder manipulativen Telegramme gehört zu den unterhaltsamsten in Bondarews Buch. Alles, was auf russischer Seite schiefläuft, wird mit "Machenschaften des State Departments" begründet. Russische Botschafter überbieten sich mit anti-westlichen Berichten, die immer krudere Intrigen ausmalen, denen sie angeblich heldenhaft standhalten. Märchen, die die eigene Karriere beflügeln sollten. An Krieg, schreibt Boris Bondarew, habe niemand gedacht. Sein Buch fügt aus bisher unbekannter Perspektive Erklärungen hinzu, wie es zu Russlands Angriffskrieg kommen konnte.
"Im Ministerium der Lügen. Ein russischer Diplomat über Moskaus Machtspiele, seinen Bruch mit dem Putin-Regime und die Zukunft Russlands" von Boris Bondarew ist in der Übersetzung von M. David Drevs im Heyne Verlag erschienen.
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