Der Ruck, der Russland erfassen soll, ist vor allem im Straßenbild zu greifen. Überall in Moskau sind riesige digitale Billboards aufgetaucht, die für Werbung genutzt werden, vor allem aber für die Verbreitung von Putin-Zitaten, den Losungen des neu-alten Superreiches. Dabei kommt es, hängen gleich mehrere Billboards an der Fassade von Kaufhäusern, oft zu einer unfreiwilligen Wahrheit: nämlich zu einem erhellenden Bild der Gleichschaltung. Auf allen Kanälen Putin.
Russland: Ein klares Bild vom totalen Staat
Nimmt man die Sterilität der Straßen hinzu, die Dichte der Überwachungskameras, die aufgesetzte Fröhlichkeit – überall dröhnt russische Musik –, die Plakate, die an vermeintliche Kriegshelden erinnern oder zum Dienst in der Armee animieren, die Z-Denkmäler und die allgegenwärtigen Polizeikräfte, dann ergibt sich ein klares Bild vom totalen Staat.
Dessen Feinde sind klar markiert: Die Sprache wuchert mit kreativen Hassetikettierungen. "укрорейх" – "Ukroreich" für die Ukraine, "прибалтийские вымираты" – ein Spiel mit dem Begriff "Emirate" – es bedeutet aber "Baltisches Aussterben" oder Европа – "долбанная нацистская", das "fucking-Nazi-Europa".
"Moralische Krankheit": Alle zeigen sich gegenseitig an
Niedertracht und Neid zeigen sich auch in der Welle der Strafanzeigen, die die Gesellschaft erfasst hat. Besonders betroffen: Künstler und Intellektuelle. Die Philosophin und Essayistin Oksana Timofeeva skizziert ein Klima der Denunziation: "Es ist die Stunde der Selbstbestätigung all jener, die bisher an den Universitäten erfolglos waren. Ihre wissenschaftlichen und ethischen Mankos treten jetzt in den Hintergrund. Was zählt, ist politische Loyalität. Durch Anzeigen gegen erfolgreiche Kollegen setzten sie sich nach und nach durch."
In Russland herrsche geradezu eine "Anzeigen-Epidemie", sagt sie. "Man kann sie bestellen, es gibt bezahlte Anzeigen, aber die Leute schreiben sie auch aus ganzer Seele selbst, in der Überzeugung, ihre Pflicht zu tun. Es grassiert die Gehässigkeit, eine moralische Krankheit."
Die Dramaturgin Anastassia Patlay ist schön öfter in die Schusslinie der russischen Behörden geraten. Sogar die Administration des Präsidenten kümmerte sich um die Inhalte ihrer Stücke.
"Aus dem Schrank heraustreten" ist ein dokumentarisches Drama über ein homosexuelles Coming-Out – eine Aufführung wäre inzwischen strafbar, gleichgeschlechtliche Liebe wird wie ein Verbrechen geahndet. Patlays Stück "Kantgrad" über die Möglichkeit von Dialog nach dem Krieg steht indes immer noch auf dem Spielplan des Teatr Doc.
Strategien des Überlebens
Die Stimme der Künstler kann in Russland niemand ganz zum Schweigen bringen – das war schon immer so. Die Situation ist unübersichtlich. Die einen Künstlerinnen und Künstler bringen sie ganz zum Verstummen, auf andere zeigen sie mit dem Finger und die dritten bemerken sie nicht.
Die Verhaftung von Genja Berkowitsch und Swetlana Petrijschuk ist für alle ein abschreckendes Beispiel. Aber das Teatr Doc macht beispielsweise weiter, ohne dass jemand sich einmischt. Mit klaren politischen Botschaften muss man sich natürlich zurückhalten. Jetzt kommt es darauf an, Sinn über einen doppelten Boden zu erzeugen. Das ist eine normale Strategie des Überlebens.
Im Gogol-Theater, dem früheren Gogol Center, werden denn auch noch immer Stücke von Kirill Serebrennikow aufgeführt. Nur dass der Name des berühmten, mittlerweile in Deutschland lebenden Regisseurs nicht mehr im Programm auftaucht.
Renaissance stalinistischer Ästhetik
Aber natürlich verschafft sich auch die Z-Ästhetik Raum. Alexander Prochanow, rechtsextremer Schriftsteller und Ideologe des "russischen Traums", hat in der Ekaterinburger Panzerschmiede "Uralwagonsawod" die Rock-Oper "Ins Feuer gehen" aufgeführt. Zehn Arien über Güte, Weisheit und kriegerische Entschlossenheit der Russen.
Auf der Bühne formieren sich weißgekleidete jugendliche Akteure abwechselnd zu Z und V – beide Buchstaben stehen für den Krieg in der Ukraine. Dazu absurde Volk-und Boden-Gesänge. "Wir bauen Kathedralen und Kasernen." Ein Remake stalinistischer Ästhetik.
Oksana Timofeeva macht noch mehr Gemeinsamkeiten mit der Stalin-Zeit aus: Auch die Angst ist zurück – und mit ihr alle aufgesetzte Heiterkeit.
"Wenn sie zuhause sind, schreiben sie Anzeigen"
Es ist eine Art "Kultur der Fassade", sagt sie, durchaus prachtvoll, aber hinter den Kulissen passiere Schreckliches: "Das ganze Leben ist Theater geworden. Inszeniert wird friedliches Miteinander, de facto führt Russland Krieg. Auf der Straße sind alle nett und freundlich zueinander, und wenn sie zuhause sind, schreiben sie Anzeigen."
Genau so sei es auch unter Stalin gewesen: "Die allgegenwärtige Angst führt zu einem spannungsgeladenen Schweigen in der Gesellschaft. Deshalb verfallen die Leute über die Annehmlichkeiten des Alltags in Euphorie: Wir herrlich, dass die Restaurants voll sind, die Supermärkte und dass um die Ecke ein Barber-Shop ist. Hinter diesem Dauerlächeln ist die Angst nicht mehr so groß. Alle stellen sich Russland wie eine Löwengrube vor, in der sich alle gegenseitig zerfleischen, tatsächlich erleben wir aber einen ganz anderen Trend: schweigende Freundlichkeit."
Auf dem Höhepunkt der Massenverhaftungen und Erschießungen hatte Stalin einst auch ausgerufen "Das Leben ist fröhlicher geworden!“
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!