Ein Kind in roter Lederjacke schaut in den Himmel.
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Adri (Luana Giuliani) wartet auf eine Antwort des Himmels

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Hommage an die Mütter: "L'immensità" mit Penélope Cruz

"L'immensità" spielt im Italien der 1970er-Jahre und zeigt eine Familie, deren Dysfunktionalität keine Grenzen kennt. Bei seiner Weltpremiere bei den Filmfestspielen in Venedig wurde Regisseur Emanuele Crialese stürmisch gefeiert. Zurecht?

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Aus vielen Momenten besteht dieser Film. Atmosphären, Stimmungen, Augenblicken, in denen man sich verlieren kann. Er ist eine Art Resonanzraum für Geschlechterrollen und Geschlechteridentitäten.

Es gibt keine wirkliche Handlung, keine Geschichte, die stringent von A nach B führt. Es gibt vor allem eine Grundkonstellation: Mann und Frau, drei Kinder. Eine römische Mittelschichtsfamilie in den 1970er Jahren.

Schön ist nur die Fassade

Sie leben fast schon märchenhaft in einem lichten Mietshaus mit Dachterrasse und Blick auf den Petersdom. Eine Idylle.

Doch der Mann ist ein herrischer Patriarch, ein Geschäftsmann alter Schule, und sie eine leidende Schönheit, eine nach Italien eingewanderte Spanierin, die von ihrem Ehegatten betrogen wird.

Rund um diese dysfunktionale Familie entwickelt sich "L'immensità", auf Deutsch "Die Unermesslichkeit" oder "Die Unendlichkeit": Ausflüge werden gemacht, Krisen durchstanden, erste Lieben erlebt, Maskenbälle veranstaltet und manchmal wird auch gesungen.

Identitätssuche im Zentrum

Ein Junge in einer roten Lederjacke spannt auf dem geteerten Dach des Mietshauses mit einer Schnur zwischen den Antennen ein sternförmiges Gebilde. Er hebt beide Arme, streckt seine Hände gen Himmel – und bittet um ein Zeichen von oben.

Andrea heißt eigentlich Adriana. Sie ist die älteste Tochter der Familie, um die 14 Jahre alt, fühlt und kleidet sich aber als Junge. Auf dem Dach hofft Andrea Zeichen aus fernen Galaxien zu bekommen. Von dort, wo er glaubt herzukommen, aus einer fernen Galaxie, in der sein Geschlecht ein anderes war.

Auf der Erde ist etwas schiefgelaufen. Überhaupt läuft eine Menge schief in dieser Familie mit ihrer schmucken Wohnung in Braun-, Ocker- und Orangetönen.

Zweckfreie Inszenierung

Wie in einem Musical streut Regisseur Emanuele Crialese kleine Gruppenchoreographien in die Handlung ein. Dann decken die Mutter und ihre drei Kinder zu italienischer Popmusik der 70er den Tisch, Teller werden hin und her geschoben, Besteck wandert durch viele Hände und eine Tischdecke bauscht sich auf.

Das ist nett choreographiert, aber auch ein bisschen zweckfrei. Für was diese Einlagen stehen, erschließt sich nicht so recht.

Vermutlich sollen die Szenen für das innige Verhältnis zwischen den drei Kindern und ihrer Mutter stehen, auch für eine überforderte Frau, die zwischendurch Momente der Unbeschwertheit braucht und selbst immer wieder wirkt, als wäre sie eigentlich das vierte Kind in dieser Familie.

Verbeugung vor Müttern

Der Regisseur begreift seinen Film als Verbeugung vor Müttern, vor den Frauen, die Kinder auf die Welt bringen, so die Evolution am Laufen halten und ohne die es uns alle nicht gäbe.

Immer wieder fragt man sich, um was es nun in diesem Film wirklich geht – um den Teenager und den Kampf um die Geschlechtsidentität oder um das Hinterfragen der Rollenklischees einer Siebziger-Jahre-Familie?

Persönliche Geschichte von Emanuele Crialese

Der Regisseur erklärte letztes Jahr vor der Premiere des Films bei den Filmfestspielen von Venedig, selbst ein Transmann zu sein und, als Mädchen geboren, von seiner Mutter alle Unterstützung im Prozess der Umwandlung erfahren zu haben.

"L'immensità" sei ein sehr, sehr persönlicher Film. Das mag stimmen, aber die stereotype Darstellung des Vaters, für den das Mädchen, das ein Junge sein will, ein Mädchen bleibt, wirkt dann doch etwas banal ödipal.

Den munter erzählten Film retten vor allem die Darsteller: Luana Giuliani spielt Andrea/Adriana mit einer stillen Wehmütigkeit, die einem das Herz zerreißt – und Penelope Cruz schafft es, dieser eher depressiven als rebellischen Ehefrau eine Natürlichkeit, Verletzlichkeit und Anmut mitzugeben, die berührt. Um die beiden dreht sich der Film – und wegen ihnen ist er auch sehenswert.

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