Putins Gefolgsleute sind gerade vollauf damit beschäftigt, seine autoritäre Dauerherrschaft als Wohltat zu verkaufen, schließlich sollen die Russen ihren Präsidenten im März trotz Krieg, Repressionen und Wirtschaftsdesaster abermals im Amt bestätigen. So lobhudelte Putins Wirtschaftsfachmann Maxim Oreschkin, der Kreml denke im Unterschied zu den Demokratien des Westens nicht nur drei Monate oder fünf Jahre in die Zukunft, also bis zu den jeweils nächsten Wahlen, sondern gleich "Jahrzehnte". Putin treffe "keine einzige Entscheidung" mit Blick auf irgendwelche Wahlen: "Er denkt immer im Hinblick auf die nächsten Generationen." Fragen nach der extremen sozialen Ungleichheit im Land wischte Oreschkin ebenso beiseite wie nach der Inflation, dem Rubelkurs und einer möglichen neuen Mobilisierungswelle. All das passt offenbar nicht ins rosarote Bild.
"Perspektiven für unsere Entwicklung"
An dem arbeitet auch Alexander Bastrykin (70), einer von Putins wichtigsten Justiz-Gehilfen mit der Funktion eines Chefermittlers. Er regte abermals an, die russische Verfassung umzuschreiben, wenn auch "ohne Eile". Dort steht bisher in Artikel 13 geschrieben, dass Russland keine Staatsideologie habe, eine Formulierung, die mit den Erfahrungen in der Sowjetunion zu erklären ist, als der Marxismus-Leninismus offizielle Leitlinie war. Ganz ohne ideologische Orientierung könne Russland jedoch "nicht funktionieren", so Bastrykin im Einklang mit dem russischen Justizminister. Es gelte, die "Perspektiven für unsere Entwicklung" in der Verfassung zu verankern. Der Kreml habe dazu allerdings noch nichts zu sagen, so Putins Sprecher Dmitri Peskow in einer Stellungnahme. Das legt nahe, dass Bastrykin einmal mehr einen "Versuchsballon" startete, um die öffentliche Stimmung hinsichtlich einer neuen Staatsideologie zu testen.
"Ziehen Sie den Stecker"
Die meisten Kommentare waren allerdings wenig gnädig, es dominierten Hohn und Spott: "Absolut richtige Idee!!! Es ist notwendig, in der Verfassung unsere großartige Zukunft festzulegen und dass jeder, der sich um den Präsidenten schart, in den Himmel kommt!!!" Am Besten, die überalterte Kreml-Mannschaft lasse sich in den Kälteschlaf versetzen, meinte ein St. Petersburger Leser, damit sie in 250 Jahren alle Gesetze und Regeln überarbeiten könne. Kolumnistin Ekaterina Winokurowa warnte vor einer offiziösen Ideologie, die nur umso entschiedener abgelehnt werde. Wenn Putin unbedingt die Verfassung ergänzen wolle, solle er reinschreiben: "Unser Staat ist auf Lügen aufgebaut."
Blogger Sergej Starowoitow schrieb: "Wenn die Sicherheitskräfte beginnen, über Ideologie zu diskutieren, sollte das nicht als Suche nach einem 'Bild von der Zukunft' missverstanden werden, denn das haben sie längst, sondern als Resultat des Nachdenkens auf der Suche nach inneren Feinden." Es sei allemal sinnvoller, in die Verfassung aufzunehmen, welche Ideologien in Russland verboten seien, meinte ein weiterer Diskutant, denn unter Druck könnten die Menschen weder lieben, noch glauben.
Fürwahr eröffne sich durch eine Verfassungsänderung ein "gewaltiger Spielraum für Kreativität", listete ein Blogger auf: "Schaffen Sie die Wahlen ab. Ernennen Sie den Präsidenten auf Lebenszeit. Untersagen Sie jegliche Kritik. Antikorruptionsgesetze sollten aufgehoben werden. Einführung der Immunität für Oligarchen. Bestechungsgelder legitimieren. Reisepässe einziehen. Schreiben Sie auf, dass Russland das wichtigste und stärkste Land der Welt ist. Alle Bürger sollten in Mausoleen beigesetzt werden. Stalin soll rehabilitiert werden. Jede von der offiziellen Meinung abweichende Ansicht wird mit sieben Jahren Gefängnis geahndet, und sei sie auch nur gedacht, nicht ausgesprochen. Verbieten Sie das Internet oder ziehen Sie den Stecker. Auch alles andere ist verboten."
"Rülpser aus der Jelzin-Ära"
Nicht jeder könne sich täglich was "Nützliches" einfallen lassen, entschuldigte jemand Bastrykin hämisch, dessen Meinung noch nie relevant gewesen sei. Ernsthafter hieß es, der Chefermittler solle sich erstmal darum kümmern, dass die Verfassung respektiert werde, statt sie zu ändern, schließlich seien dort die Rede- und Versammlungsfreiheit verankert. Vermutlich lege Putin die Grundlage für eine Herrschaft bis 2048, wurde ironisch spekuliert. Die Behörden verstünden nicht, dass sie mit der Missachtung der Verfassung am Ast sägten, auf dem sie selbst säßen, denn wenn nicht mal die Beamten die Gesetze einhielten, dürfe sich niemand wundern, wenn sich auch das Volk nicht darum schere.
Russland warte jetzt auf die Vorschläge des Landwirtschaftsministers zur Reform der Zahnheilkunde, spottete jemand mit Blick darauf, dass Bastrykin für Fragen der Verfassungsänderung in keiner Weise zuständig ist. Die ersten, die unter einer Verfassungsreform im Sinne des Regimes zu leiden hätten, seien wohl die Internet-Bots des Kreml, so eine Argumentation, schließlich müssten Putins Lobredner dann wohl "Kurse belegen und Prüfungen absolvieren" in Sachen Ideologie. Die Stimmen, die dem Chefermittler beipflichteten und die jetzige Verfassung als "Rülpser aus der Jelzin-Ära" schmähten, waren dünn gesät.
"Der Westen wird sterben"
Politologe Anatoli Nesmijan zitierte den berühmten russischen Satiriker Michail Saltykow-Schtschedrin (1826 - 1889) der bereits im 19. Jahrhundert beobachtet hatte, dass viele Mächtige die Begriffe "Vaterland" und "Eure Exzellenz" miteinander verwechselten. Es werde nichts Gutes dabei herauskommen, den Russen per Verfassung die Liebe zum Präsidenten zu verordnen: "Ein Mensch kann sein Heimatland lieben, aber mit dem Staat und seiner Politik überhaupt nicht einverstanden sein. Und das ist eine ganz normale Geschichte." Die innenpolitische Lage in Russland sei derzeit so angespannt, meinte einer der wichtigsten Polit-Blogger, dass bereits Worte ausreichten, Alarmstimmung auszulösen - Taten bedürfe es gar nicht mehr.
Es werde "interessant" sein, Bastrykins Ansichten über eine Staatsideologie konkret zu erfahren, auch, wenn sich jeder "ungefähr vorstellen" könne, was ihm vorschwebe, so ein Kommentator. Blogger Anton Oreh machte den Vorschlag, per Verfassung festzulegen, dass "der Westen sterben" werde, schließlich predige Putin das seit 25 Jahren. Andere empfahlen, die bisher von der Ukraine eroberten Regionen in der Verfassung als russisches Staatsgebiet zu definieren. Wieder andere erinnerten daran, dass der Marxismus-Leninismus zwar sowjetische Staatsideologie war, diese Lehre etwa im Jahr 1985, kurz vor der Wende, bei den Russen aber kaum mehrheitsfähig gewesen sein dürfte.
Russland als Aktiengesellschaft
Ultrapatriot Michail Polinkow bedauerte, dass Russland weder den Kommunismus erreicht, noch "zu Gott zurückgekehrt" sei, was eine neue Ideologie deutlich erschwere. Der Großteil der Bevölkerung glaube ohnehin nur noch an den Wohlstand: "Die postsowjetische Ära des Konsums und des Egozentrismus hat sehr viele Kosmopoliten hervorgebracht, die weder Vater-, noch Mutterland haben. Bei der Bestimmung der Ideologie ist es aber notwendig, die Meinung all dieser Untergruppen von Mitbürgern zu berücksichtigen." Im Grunde genommen sei Russland derzeit eine "Aktiengesellschaft mit kommerziellen Interessen", wobei die Dividende an einen "engen Personenkreis" ausgeschüttet werde.
So originell wie nachvollziehbar war der satirische Einwurf eines Zuschauers, der meinte: "Der springende Punkt bei dem ganzen Gerede von 'Staatsideologie' ist der Wunsch, in der Verfassung irgendwie festzulegen, dass der Chef immer Recht hat und niemandem etwas schuldet. Und dass derjenige, der nach Meinung des Chefs zum inneren Kreis gehört und recht hat, auch tatsächlich so behandelt wird, und dass derjenige, der dem System gegenüber fremd und hinterhältig ist, nichts anderes erwarten darf." Mit anderen Worten, eine Ideologie müsse Hierarchien zementieren, die rein rational nicht begründbar seien.
"Wahlbeteiligung wird extrem niedrig sein"
Jenseits der Ideologie-Debatte hat Putin nach Auffassung des im Exil lebenden russischen Politologen Abbas Galljamow das Problem, dass die Manipulation des Wahlergebnisses allein zur Stabilisierung seiner Herrschaft nicht ausreichen werde, schließlich müsse es von einer Mehrheit der Russen auch "geglaubt" werden, sonst sei der ganze Urnengang wertlos. Galljamow schätzt die tatsächlichen Unterstützer auf derzeit nicht mehr als 35 Prozent. Die jedoch seien momentan nicht sonderlich gewillt, in die Wahllokale zu kommen: "An der Front gibt es keine Siege. Erfolg in der Wirtschaft gibt es nur auf dem Papier. Wenn die Wahlbeteiligung nicht einer strengen administrativen Kontrolle unterliegt, wird sie extrem niedrig sein." Es sei nicht ausgeschlossen, dass im März das Gefühl überwiege, die Wahl sei "völlig manipuliert", was Putins "wacklige Legitimität" weiter schwächen könne.
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