Ein junger Soldat schaut durch ein Busfenster
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Abfahrt an die Front: Mobilisierter und Angehörige

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"Um jeden Preis stoppen": Kreml wegen Frauenprotesten alarmiert

Im Vorfeld der russischen Präsidentschaftswahl will Putins Regime "Hoffnung und Zuversicht" verbreiten. Da stört die landesweite Unruhe unter den Müttern und Ehefrauen von mobilisierten Soldaten. Die Angehörigen gelten als möglicher "Risikofaktor".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Eigentlich kann bei Putins Wiederwahl nichts mehr schiefgehen, soll es auf einem "Seminar" geheißen haben, das der Kreml kürzlich für regionale Behördenleiter abgehalten haben soll. "Es ist klar, dass unsere Wahlen im Ausland sowieso nicht als fair anerkannt werden, deshalb müssen wir uns auf die Meinung der Russen konzentrieren", zitiert das vorsichtig kremlkritische Wirtschaftsblatt "Kommersant" einen Tagungsteilnehmer. Er soll als Mindestziel eine Wahlbeteiligung von 70 Prozent ausgegeben haben, von denen 75 Prozent oder mehr Putin wählen sollten. Der Wahlkampf müsse angesichts des Krieges "ohne politische Show" verlaufen, die Russen hätten derzeit keine Lust auf kontroverse Debatten, sondern erwarteten eher eine "psychotherapeutische Beruhigung" mit hoffnungsvollen und zuversichtlichen Botschaften: "Sie sind müde, deshalb ist es wichtig zu zeigen, dass nichts ihr normales Leben bedroht und dass das Land eine klare Zukunft hat."

Frauen gegen "legalisierte Sklaverei"

Allerdings gebe es zwei, wenn auch "geringe", Risikofaktoren, nämlich einerseits innerethische russische Konflikte, etwa in muslimisch geprägten Regionen, und zweitens "Gefühle von Frauen, deren Angehörige sich an der Front" befänden. Es sei "notwendig, mit ihnen in Kontakt zu bleiben, auf ihre Probleme zu achten und bei deren Lösung zu helfen", so ein Gesprächspartner des Blatts. Das russische Exilportal "The Insider" gibt bei der Gelegenheit ziemlich alarmistische Worte eines regionalen Funktionärs wieder: "Die Aufgabe besteht darin, den Protest von außen um jeden Preis zu stoppen. Überzeugen, versprechen, zahlen. Alles, solange es nicht auf die Straße geht, in beliebiger Menge, sogar, wenn es nur fünfzig Leute sind."

Immer wieder machen Meldungen über aufgebrachte Angehörige von wehrpflichtigen Soldaten die Runde, so hatten zwanzig Frauen am 7. November auf dem Roten Platz demonstriert und mit einem zufällig anwesenden General gesprochen, was viel mediale Aufmerksamkeit erregte. Gerüchte, wonach die Frauen mittlerweile einen eigenen Telegrammkanal ("Der Weg nach Hause", 13.600 Abonnenten) und sogar ein eigenes Manifest mit Forderungen hätten, verstörten die Kreise der Ultrapatrioten. Konkret fordern die Frauen eine "vollständige Demobilisierung", da Zivilisten grundsätzlich nicht an Feindseligkeiten teilnehmen sollten, außerdem eine maximale Dienstzeit von einem Jahr und die "verfassungsrechtlich garantierten Rechte auf sozialen Protest und öffentliche Versammlungen".

Die Frauen wandten sich gegen "legalisierte Sklaverei" und das "Ignorieren unseres Problems seitens der Führung des Landes durch Schweigen". Sie prangerten die "Willkür der Kommandeure und Repression gegen unser Militärpersonal" an und schimpften über die "Entmenschlichung" der Soldaten, von denen nicht wenige als "Verbrauchsartikel" behandelt würden. Die Hasspropaganda wurde ebenso gescholten wie die "Repression": "Wir fordern, dass wir mit dem Abzug unserer mobilisierten Ehemänner, Brüder, Söhne, Väter und all unserer nahestehenden Männer aus der Frontzone beginnen und sie zu ihren Familien zurückbringen." Sie seien bereit, jeden zu unterstützen, der ihnen dabei helfe.

"Sie sollen Handschuhe stricken"

Exilblogger Anatoli Nesmijan (110.000 Fans) schrieb spöttisch: "Die Frauen sollen Handschuhe für Ihre Ehemänner stricken und ihre Kinder darauf vorbereiten, in ein paar Jahren ihre Väter in den Schützengräben zu ersetzen, aber sie beschließen, Kundgebungen abzuhalten."

Der Unmut der Familienmitglieder richtet sich dagegen, dass der Kreml die Dienstzeit der Soldaten ganz allgemein und ohne Unterschiede "bis zum Ende der Spezialoperation" verlängert hatte, entgegen bisheriger Versprechungen. Den von Putin versprochenen Urlaub ("14 Tage alle sechs Monate", plus An- und Abreisetage) bekommen die Frontkämpfer demnach auch höchst selten. Da hilft es den Propagandisten auch nicht, dass ein Abgeordneter jüngst anregte, Familienvätern mit drei und mehr Kindern eine Woche Extraurlaub zu gewähren. Die Duma habe sich längst in eine Brutstätte "wahnhafter Ideen" verwandelt, die ausschließlich dazu da seien, die Namen ihrer Urheber bekannter zu machen, so ein Kommentator.

"Mit Familien kann es zu Problemen kommen"

Grund für die Kalamitäten des Kremls: Eigentlich müsste er wegen seiner Personalnöte auf dem Kriegsschauplatz längst eine weitere Mobilisierung durchführen, will vor der Präsidentschaftswahl aber auf keinen Fall "schlechte Stimmung" machen. Es muss also vorerst bei den vorhandenen Truppen bleiben, und die werden immer mehr dezimiert. Inzwischen ist unter Militärs von einer "verdeckten" Mobilisierung die Rede, also einer, von der die Öffentlichkeit möglichst wenig mitbekommen soll. Meinungsumfragen zufolge, denen in Russland natürlich nur sehr eingeschränkt zu trauen ist, sind rund sechzig Prozent der Befragten gegen eine weitere Mobilisierung, nur rund ein Drittel dafür.

Im ganzen Land sollen regionale Behörden geplante Demonstrationen von Soldatenmüttern -und -frauen mit wechselnden Begründungen untersagt haben: Mal sprächen "Hygieneregeln" dagegen, mal das Versammlungsrecht, mal dubiose andere Paragrafen. "Die Behörden haben keine Angst mehr vor den Anhängern des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny. Auch Antikriegsaktivisten stellen keine Bedrohung mehr da. Gerade mit den Familien von Wehrpflichtigen und Vertragssoldaten kann es jedoch zu Problemen mit den Behörden kommen", heißt es in einem gewöhnlich gut unterrichteten Telegram-Blog in einer Analyse der Situation. Das Innenministerium habe angewiesen, das Netz auf eventuelle Unmutsäußerungen peinlich genau zu überwachen.

"Niemand will kämpfen, alle wollen nach Hause"

Gleichwohl nehmen die Meldungen von russischen Militärbloggern zu, dass mobilisierte Soldaten ohne angemessene Ausrüstung "verheizt" werden und weder die versprochenen Sozialleistungen sehen, noch den zweiwöchigen Urlaub genehmigt bekommen, den Putin ihnen versprochen hatte. Beliebt seien auch "Himmelfahrtskommandos", wonach "Spezialisten" die Ungefährlichkeit eines Frontabschnitts bestätigen, um arglose Soldaten dann in ihr Unglück zu schicken, teilweise als "Ablenkungsmanöver" bezeichnet. Es gebe in Russland eine bewährte Methode, mit Unzufriedenen an der Front umzugehen, gab einer der Blogger zu bedenken: "Zuerst werden sie versuchen, dich zu überreden, dann werden sie versuchen, dich zu bestechen, schließlich werden sie mit dir einen Streit vom Zaun brechen und einfach anfangen, dich zusammenzuschlagen, vielleicht zu treten."

In den von Angehörigen verbreiteten Videobotschaften heißt es, Vorgesetzte gingen mit den Mobilisierten ausgesprochen respektlos um, so habe ein Offizier einem Untergebenen mit dem Revolver Zähne ausgeschlagen: "Niemand will kämpfen – alle wollen nach Hause." Es liegt auf der Hand, dass der Kreml gerade in Wahlkampfzeiten sehr daran interessiert ist, solche Meinungsäußerungen zu unterdrücken. Die Behörden von Tscheljabinsk sollen nach Informationen der "Moscow Times" wütenden Frauen signalisiert haben, sie würden sich für mehr Urlaubstage einsetzen, die Fahrkosten erstatten und dafür sorgen, dass Verwundete näher an ihren Heimatorten medizinisch versorgt würden. Außerdem sei in Aussicht gestellt worden, die Bedenken der Familien "noch deutlicher nach oben weiterzugeben". Ein konkretes Beispiel dafür, wie Behörden die Vorgabe umsetzen, das Blaue vom Himmel zu versprechen, um die Ruhe wiederherzustellen.

Kolumnistin Ekaterina Winokurowa will erfahren haben, dass der Kreml auch die Zersetzung der Frauenproteste angedacht habe: So seinen Vizegouverneure angewiesen worden, nach loyalen Angehörigen Ausschau zu halten, die in der Propaganda vorgeführt werden könnten. Dann stünden die beunruhigten Frauen umso "isolierter" da. Jedenfalls sei die Gefahr von innen deutlich ernster zu nehmen als alle Proteste, die "aus dem Ausland gesteuert" seien.

"Bitte keine Verwirrung stiften"

In Nowosibirsk sollen die Behörden zwar eine Kundgebung von Frauen untersagt haben, die Angehörigen wurden jedoch in einen Saal "zur Audienz" gebeten, wobei keine Journalisten zugelassen waren, nicht mal russische. Protestplakate mussten am Eingang begutachtet werden. Funktionäre werden im Netz mit den Appell zitiert, die Frauen sollten nicht "ihren Gefühlen nachgeben": "Ich bitte Sie, keine Verwirrung zu stiften, jetzt verteidigen die Jungs heldenhaft Ihr wohlgenährtes, unbeschwertes Leben."

Im oben erwähnten Telegram-Blog "Der Weg nach Hause" hieß es über die Veranstaltung mit deutlich anderer Tendenz: "Uns wurde gesagt, dass das ganze Publikum weinte, als es merkte, dass auf der Bühne eine Mutter ein Gedicht über ihren toten Sohn las. Auf ihrem Plakat stand: 'Helft mir, meinen Sohn Maxim zurückzubekommen.' Wir fragen uns, warum es in all dieser Zeit keine landesweite Trauer um die Opfer gab? Keine Gefallenen-Zahlen. Zumindest für einen einzigen Tag, mit Schweigeminute, Prozessionen, alles wie es sein sollte. Wahrscheinlich, weil sich niemand um unsere Trauer kümmert."

Der im Exil lebende Politologe Abbas Galljamow verwies darauf, dass die aufgebrachten Soldatenfrauen gesellschaftliche Schichten ansprächen, die für Kriegsgegner und Oppositionelle normalerweise nicht empfänglich seien. Insofern trügen die Proteste durchaus zur "Delegitimierung" des Regimes bei, wenn sie auch schwerlich einen Umsturz bewirken könnten. So gesehen könnten die Frauenproteste die Wahlbeteiligung und die Zustimmung zu Putin beeinflussen, die dem Kreml derzeit so überaus wichtig seien.

"Schmales Rinnsal wird völlig versiegen"

Blogger Michail Polinkow, keineswegs ein Kriegsgegner, empfiehlt dem Kreml so oder so deutlich mehr Fingerspitzengefühl: "Ich denke, dass der Feind diese Kategorie russischer Bürger, die mit der Willkür der Behörden wirklich unzufrieden sind, durchaus ausnutzen kann. Ich glaube, dass die Unzufriedenheit nur noch zunehmen wird. Und das nicht nur im Hinterland, sondern auch vorne an der Front. Angesichts all dieser Willkür bei den Mobilisierten, der Erhöhung des Einberufungsalters und der automatischen Vertragsverlängerung wird das ohnehin schon schmale Rinnsal derjenigen, die an die Front wollen, völlig versiegen." Nur, wenn der Kreml die Verträge mit Freiwilligen einhalte, gebe es einen "Ausweg": "Dann wird die Zahl der Vertragsunterzeichner stark zunehmen und die Unzufriedenheit im Land sinken. So sehe ich das. Aber ich verstehe nicht, warum die Behörden das nicht genauso sehen."

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