1966. China. Der Beginn der sogenannten Kulturrevolution. Man sollte sie wohl besser die fatale Unkulturrevolution nennen. Es war ein brutaler Angriff der Gegenwart auf die Vergangenheit, vor allem auf die tief im Konfuzianismus verwurzelte Verehrung der Tradition. Zahlreiche Kulturdenkmäler gingen verloren. Aufgeputschte, vor allem jugendliche Parteisoldaten verfolgten die vermeintlich reaktionären Eliten.
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Auch Ai Weiweis Vater wurde zur Zielscheibe des roten Pöbels. Der war der Maler und Lyriker Ai Qing Tsching, kannte Mao sogar persönlich – und geriet trotzdem ins Visier der revolutionären Garden. Er musste öffentliche Toiletten putzen, wurde zusammen mit seiner Familie verbannt und durfte 21 Jahre lang nichts veröffentlichen. Und wie ging man zu Hause damit um? Eine der anrührendsten Stellen des Comics "Zodiac" ist dieses Eingeständnis von Ai Weiwei: "Über 20 Jahre habe ich bei meinem Vater gelebt. […] Ich habe ihn nie etwas gefragt."
Eine Reaktion auf die Distanz des Vaters
Dieser autobiografische Comic ist eine Reaktion auf diese Leerstelle. Ai Weiwei erzählt von seinem künstlerischen wie politischen Lebensweg, um seinem Sohn, aber auch anderen Familienangehörigen zu erklären, warum er seinen Weg eingeschlagen hat. Die frechste Stelle dabei: Wie sich plötzlich beim Verhör das Gesicht des Polizeibeamten in das des heutigen Parteiführers Xi Jingping verwandelt – bildlich wird hier gezeigt: Seit der Inhaftierung 2011 des Künstlers hat sich nichts zum besseren gewandelt.
Die Fülle dessen, was der 1957 geborene Ai Weiwei anspricht, ist immens. Seine eigene Biografie, seine New Yorker Jahre zwischen 1983 und 1993, die Bedeutung von Joseph Beuys und Ludwig Wittgenstein für seine Arbeit, seine Wertschätzung für Dissidenten wie Liu Xiaobo, dazu viele Daten, vor allem aus den letzten 100 Jahren der chinesischen Geschichte.
Schon die Aufzählung macht deutlich, hier wird auf 172 Seiten vieles nur angeschnitten. Auf einer halben Seite behandelt er die Bedeutung des Versailler Vertrags von 1919 für China und die Gründung der dortigen Kommunistischen Partei: "Studierende aus Peking zündeten das Haus des Ministers Cao Rulin an. Man warf ihm vor, pro-japanisch zu sein."
Ai Weiwei gibt keinen Hinweis darauf, was dem vorausgegangen war, sagt nichts darüber, wer da welche Position innerhalb der widerstreitenden Kräfte im Reich der Mitte vertrat. Der Leser wird allein gelassen.
Viel Vorwissen wird vorausgesetzt
Das gilt leider für sehr viele Aspekte dieses Comics. Wer nicht schon vorher über eine gründliche Kenntnis seiner Kunstwerke und von Ai Weiweis Biografie verfügt, für den bleibt mutmaßlich vieles rätselhaft an diesem Comic. Vielleicht ist das Problem der fehlende Abstand: Ai Weiwei ist selbst der Autor dieses autobiografischen Comics.
Er erzählt uns, was ihm gerade durch den Kopf zu gehen scheint. Er schneidet Themen kurz an, wie etwa die Kulturrevolution, lässt sie dann liegen, nimmt sie später wieder auf, fügt einen neuen Aspekt hinzu, aber ohne wirklich Dinge miteinander zu einer Erzählung zu verbinden. Bei diesem Projekt hätte es definitiv eines strengen Lektors gebraucht, der aus dieser Materialsammlung ein Buch gemacht hätte. Hier stand sich der Autor leider selbst im Weg.
Ai Weiwei: "Zodiac - mein Leben, meine Kunst" ist bei Knesebeck erschienen. Geschrieben hat ihn Ai Weiwei zusammen mit der Kuratorin Elettra Stamboulis. Illustriert wurde er von Gianluca Constantini. Aus dem Amerikanischen hat ihn Ingrid Ickler übersetzt. Er hat 174 Seiten und kostet 25 Euro.
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