"Das hätte ich nicht für möglich gehalten", sagt Harald Welzer im BR-Interview, "dass in meiner Lebenszeit Rüstung, Aufrüstung, Kriegstüchtigkeit wieder zu zentralen und unhinterfragten Kategorien politischer Forderungen werden."
In der öffentlichen Rhetorik und Ikonographie lasse sich eine Art Paradigmenwechsel beobachten – mit "merkwürdigen" Folgen, so der streitbare Sozialpsychologe Welzer. "Wenn etwa Politiker strahlend den Spatenstich für eine neue Rüstungsfabrik machen als würden sie einen Grundstein für eine Schule oder einen Kindergarten legen."
Kirchenvertreter warnen vor Politik der Kriegstüchtigkeit
In der Tat: Es hat sich innerhalb kürzester Zeit etwas verändert. Deutschland müsse kriegstüchtig werden, sagt Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius immer wieder. Bis vor kurzem undenkbare Szenarien wie der Einsatz von Bodentruppen eines Nato-Staates gegen Russland werden breit diskutiert. Bischof Friedrich Kramer, der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, mahnt: Das Reden von der deutschen Kriegstüchtigkeit sei verantwortungslos, denn ein Krieg sei schnell herbeigeredet.
Der Unterschied zwischen Selbstverteidigung und Angriff dürfe sprachlich nicht verwischt werden, betont der EKD-Friedensbeauftragte in einem Debattenbeitrag in "Christ und Welt". Boris Pistorius sei kein Kriegsminister, sondern ein Verteidigungsminister. Statt kriegstüchtig zu sein, solle Deutschland "viel friedensfähiger werden", findet der EKD-Friedensbeauftragte.
Ganz ähnliche Kritik kommt vom Augsburger Bischof Bertram Meier. In der katholischen Wochenzeitung "Die Tagespost" warnt Meier davor, die Friedens- und Sicherheitspolitik gänzlich dem Prinzip der Kriegstüchtigkeit unterzuordnen.
Kriegstüchtigkeit als neue Tugend?
Im Interview mit dem BR kritisiert Sozialpsychologe Harald Welzer, unsere Debatten darüber seien derzeit zu eindimensional. Der Ruf nach Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit entspreche einer Haltung, die seit Jahrzehnten überwunden geglaubt schien.
"Shifting Baseline", so nennt der Sozialpsychologe diesen Vorgang, die "unbemerkte Veränderung von Wahrnehmung und Deutung", eine schleichende Verschiebung der gesellschaftlich akzeptierten Normalität.
Er habe das Phänomen der Shifting Baseline beispielsweise an der Gesellschaft der Weimarer Republik untersucht, erklärt Welzer. Diese habe sich innerhalb kürzester Zeit von einer bürgerlich geprägten Gesellschaft zu einer Ausgrenzungsgesellschaft entwickelt, so der Soziologe.
Gefahr der neuen Normalität: Krieg kann man herbeireden
Dabei ist Shifting Baseline quasi ein selbst-verstärkendes System, denn mit der Veränderung der Wahrnehmung geht auch eine Veränderung der Optionen einher, so erklärt es Harald Welzer: "Je mehr man über den Krieg redet und schreibt, desto mehr redet man ihn auch automatisch in den Bereich des Möglichen."
Wenn Krieg aber gefühlt in den Bereich des Möglichen rutsche, dann liege auch die Option der Aufrüstung auf einmal viel näher. "Das ist übrigens auch genau die Logik, die 1914 in den ersten Weltkrieg geführt hat, den ja auch niemand gewollt hat", sagt Harald Welzer. Mit der Kriegstüchtigkeit wachse so auch die Möglichkeit der Gewaltbereitschaft, warnt der Sozialpsychologe. Im schlimmsten Fall könne dies in einer Gewaltspirale oder einem neuen Wettrüsten münden.
Besorgniserregend findet Harald Welzer auch die Einseitigkeit des Meinungsspektrums im öffentlichen Diskurs über Lösungen im Krieg gegen die Ukraine. Dieser "Mangel an Debatte" sei gefährlich, warnt Welzer: "Wenn es um Krieg und Frieden geht, ist das eine fatale Geschichte."
Mit Material von epd und KNA
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