Wie die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm bekannt gab, geht der diesjährige Literatur-Nobelpreis an den norwegischen Autor Jon Fosse. Die Akademie lobte seine "innovativen Stücke und Prosa, die dem Unsagbaren eine Stimme verleihen".
Geboren 1959 im norwegischen Haugesund und seit vielen Jahren in Oslo lebend wurde Jon Fosse als Romancier und ebenso als Lyriker und Theaterautor bekannt. Er gilt als einer der wichtigen europäischen Dramatiker der Gegenwart, seine Stücke wurden und werden an zahlreichen Theatern, darunter an den Münchner Kammerspielen, inszeniert. Mehr als 30 Dramen hat Fosse bislang geschrieben. Immer wieder widmet er sich dabei alltäglichen Begebenheiten und den mit ihnen verbundenen Brüchen.
Seine Prosa bezeichnet der norwegische Schriftsteller gerne als "langsam". Das stimmt. Jon Fosse nimmt sich viel Zeit für das Erzählen. Der wichtigste Literaturpreis der Welt folgt auf eine stattliche Reihe von Auszeichnungen.
Chronist alltäglicher Tragödien
Das frühe Stück "Die Nacht singt ihre Lieder" etwa handelt von einer Frau, die am Verhalten ihres Mannes immer mehr zweifelt. Er ist arbeitslos und träumt beständig von einem Leben als Schriftsteller, gerät dabei aber, auf der Couch sitzend, zunehmend in die Apathie. Seine Frau indes – Mutter seines Kindes – reibt sich mehr und mehr an dieser Situation auf. Sie will ausbrechen und verlässt die Wohnung. Nach ihrer Rückkehr nimmt die Tragödie ihren Lauf. Fosses Stück wurde auch für das Kino verfilmt, von Romouald Kamarkar.
Die Schwedische Akademie würdigt mit der Vergabe des Literaturnobelpreises ausdrücklich auch Fosses Arbeit als Theaterautor. Gleichzeitig lobte die Akademie den Minimalismus in Fosses Schreiben.
Großes Prosawerk
Jon Fosse ist ebenso ein bedeutender europäischer Erzähler. Einer seiner großen Prosabände – "Trilogie" – erzählt von Alida und Asle – von einem jungen Paar, das an der norwegischen Küste, inmitten einer rauen Welt, nach einem Ort zum Leben sucht. Sie erwarten ein Kind und stoßen überall auf Ablehnung. Es kommt zu einer Verzweiflungstat, die beiden geben sich andere Namen und können sich doch nicht verstecken.
Eine Trilogie sollte ursprünglich gar nicht entstehen. Jon Fosse schrieb zunächst die Erzählung "Schlaflos"“. Dann spann er die literarischen Fäden immer weiter, zu den Prosatexten "Olavs Träume" und "Abendmattigkeit". Die Geschichte über die Möglich- und Unmöglichkeit der Liebe in unserer Welt geht immer weiter. Fosse beschreibt seine Prosa oft als "langsame Prosa". Satz um Satz entfalten sich die Geschichten. Der Prosaband "Trilogie" wurde 2015 mit dem Preis des Norwegischen Rates – mit dem wichtigsten skandinavischen Literaturpreis – ausgezeichnet. Eine von mehreren großen Ehrungen, Fosse erhielt unter anderem auch den Ibsen-Preis und den Europäischen Literaturpreis.
Rückbesinnung auf die Vergangenheit
Auch im bislang jüngsten – ebenfalls von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzten – Roman "Ich ist ein anderer" erzählt Fosse von Asle, das Buch ist Teil seiner Heptalogie, eines ambitionierten literarischen Projekte. Asle lebt mittlerweile an einem Fjord in Norwegen, seine Frau ist vor Jahren schon gestorben. Und er ist Maler. "Ich war immer fasziniert vom Leben eines Malers", sagt der Schriftsteller im Interview. "Das Wissen, um so einen Roman zu schreiben, lernte ich von meinen Maler-Freunden."
So leicht formuliert, und doch so komplex gestaltet: Fosse konfrontiert seinen Helden in "Ich ist ein nderer" mit einem Doppelgänger. Er rettete den anderen Alse vor dem Erfrieren im Schnee und besucht ihn nun im Krankenhaus, die Fahrt zur Klinik wird zur intensiven Rückschau auf das eigene Leben. "Ein Asle begegnet dem anderen Asle", sagt Fosse über seinen Roman "Aber der andere ist sein zweites Ich oder die andere Version seines Lebens, auch seines früheren Lebens. Der eine Asle hört mit dem Trinken auf, der andere trinkt weiter."
Schreiben als Gebet
Was er schreibe, sei eine Art Gebet, erklärte der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2023 kürzlich in einem Interview. In der Tat kann man Fosses intensive Texte auch mit Meditationen vergleichen, als beständige Auslotung der Grundfragen menschlicher Existenz. Seine Prosa, beeinflusst auch von der Erfahrung der Natur im Land, ist oft minimalistisch, verwendet allenfalls Kommata, keine Punkte. Melancholie und Dunkelheit bestimmen die Geschichten, Fosses literarische Figuren sind Einsame inmitten einer unbarmherzigen Welt. Immer wieder scheinen Bezüge zu religiösen Fragen auf.
Der Autor zeigt sich "überwältigt und dankbar"
Die Schwedische Akademie ehrt mit Jon Fosse einen Sprachkünstler im besten Sinn des Wortes. Seit einiger Zeit schon wurde der norwegische Schriftsteller, Dramatiker und Lyriker als aussichtsreicher Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt und stand alljährlich auf den vorderen Plätzen der Wettbüros.
Fosse sagte dem norwegischen Sender NRK kurz nach der Verleihung des Nobelpreises denn auch, es habe ihn zwar überrascht, den Anruf zu erhalten, "doch gleichzeitig auch nicht. Ich habe mich in den vergangenen zehn Jahren behutsam auf die Möglichkeit vorbereitet, dass das passieren könnte. Es war mir eine große Freude, den Anruf zu erhalten". Höher als zum Nobelpreis könne man "nicht kommen, danach geht alles bergab", fügte Fosse lachend hinzu.
"Ich bin überwältigt und sehr froh und dankbar", wurde Fosse etwas später in einer Mitteilung seines norwegischen Verlags Samlaget zitiert: "Ich betrachte das als einen Preis an die Literatur, die in erster Linie Literatur sein will, ohne andere Erwägungen."
Auch in Berlin wurde die Entscheidung positiv aufgenommen. Kulturstaatsministerin Claudia Roth würdigte Fosse als "einen der meistgespielten Theaterautoren der Welt". Sie erhoffe sich dadurch positive Impulse für die Theaterszene, so die Grünen-Politikerin: "Der Nobelpreis wird ihn in Deutschland noch bekannter machen - und hoffentlich der gesamten skandinavischen Literatur hierzulande zu noch mehr Aufmerksamkeit verhelfen."
Wohnsitz in Europa als Vorteil?
In deutscher Übersetzung erscheinen seine Bücher im Rowohlt-Verlag. Wie in den vergangenen Jahren – mit Peter Handke, Olga Tokarczuk, Abdulrazak Gurnah und Annie Ernaux – wird einmal mehr ein in Europa lebender Schriftsteller mit dem wichtigsten Literaturpreis der Welt ausgezeichnet. Autorinnen und Autoren aus anderen Erdteilen müssen weiter auf diese Ehrung warten.
Im Video: Literaturnobelpreisträger Jon Fosse
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