So instagrammabel. So schön. So klug. Haute Couture ist immer ein Fest für die Augen. Auch bei Viktor&Rolf fließen viele, sehr viele Arbeitsstunden in die Entwürfe, bis es zum Beispiel möglich ist, dass ein Reifrock in die Luft fliegt und dort auch stehen bleibt, ohne die Luftigkeit des Materials zu zerstören. Die Ausstellung in der Kunsthalle der Hypo-Stiftung in München zeigt fast 100 Kreationen aus dreißig Jahren des niederländischen Designduos. Innerhalb der Modewelt sind sie Einzelgänger: Weil jede ihren Kollektionen eine konzeptuelle Grundlinie verfolgt: Künstlerische Strategien vermengen sich mit Stoffen zu spektakulärer Mode.
"Explosion an Tüll"
Im Zentrum der Ausstellung: ein großer Spiegelsaal mit vier Kronleuchtern. Darin viele voluminöse Kleider. Mehr Prinzessin geht nicht. Näher an der Üppigkeit der Haute Couture sind Viktor&Rolf nie gekommen. Ein Fest der Farben, grün, lila, hellblau. Oder wie es die Kuratorin Franziska Stöhr auf den Punkt bringt: "Es ist eine Explosion an Tüll!"
Keine Fotos bitte
Aber diese Hommage an das Fest, an Bälle, an die aristokratische Tradition der Mode ist nicht ganz ernst gemeint. Denn viele dieser Ballkleider tragen Botschaften. Wie zum Beispiel: "No fotos please" Keine Fotos bitte. Als würde Mode nicht daran gemessen, wie oft sie fotografiert und geteilt wird. Oder: "I'm not shy I just don't like you" - Ich bin nicht schüchtern, ich mag Dich einfach nicht. Das ist Mode für Frauen, die selbstbewusst sind. Und wenn sie Haut zeigen, dann mit einem Augenzwinkern. Beim fliegenden Reifrock aus der Upside-Down-Kollektion sieht es so aus, als wäre das Mieder (und die Brüste gleich mit) unter den Rock gerutscht. Mutmaßlich ist die Zahl von Frauen, die einen Rock kaufen, der ihr Gesicht verdeckt, überschaubar. Nach drei Jahrzehnten können sie sich diese Unabhängigkeit leisten, Ideen zu zeigen, nicht Verkaufsschlager.
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Der Erfolg war ihnen alles andere als in die Wiege gelegt
Viktor Horsting and Rolf Snoeren studieren nicht in Mailand oder Paris, nicht einmal im punkig-hippen Antwerpen, sondern im beschaulichen Arnheim. Und dort an der Kunst- und Designakademie, wo die meisten Maler oder Bildhauerinnen werden wollen. Die Mode-Dozenten rieten ihnen, sich kommerziell auszurichten und einen Job bei einem Jeanshersteller zu suchen. Diese sicher gut gemeinten Ratschläge haben die beiden Absolventen zum Glück in den Wind geschlagen.
Paris, wo Mode Teil der Kultur ist
Horsting and Snoeren ziehen 1992 nach Paris. Der Grund? Im Interview im Ausstellungskatalog sagen sie, es war der Stellenwert, der dort Fashion beigemessen wird: "Mode ist in Frankreich ein fester Bestandteil der Kultur, im Gegensatz zu der Art und Weise, wie sie in den Niederlanden wahrgenommen wird, nämlich eher als ein Hobby." Bis heute arbeiten sie immer zusammen. Am Beginn steht immer ein Blatt Papier, um ein Konzept zu entwickeln. Und dann "visualisieren wir die Worte", erklärt Rolf Snoeren. Ein gemeinsamer Prozess. Im Katalog-Interview ist nicht klar, wer gerade redet, sondern sie tun so, als würden beide gleichzeitig dasselbe sagen. In der Pressekonferenz sehen sie sich an und klären ab, wer auf die Frage antworten soll. Kein Hinweis darauf, wie sie sich die Arbeit aufteilen, wer eher für was steht. Aus Viktor Horsting and Rolf Snoeren wird die Marke "Viktor&Rolf". Die über drei Jahrzehnte funktioniert – keine Selbstverständlichkeit, gerade nicht im Modegeschäft.
Ein Traumstart, der beinahe zum Rohrkrepierer wurde
Von heute aus betrachtet haben die zwei inzwischen in Amsterdam lebenden Designer alles richtig gemacht. Das sah aber lange gar nicht so aus. Als junge Absolventen hatten Viktor&Rolf 1993 den extrem wichtigen Modewettbewerb in Hyères gewonnen. Um dann festzustellen, dass die Modeindustrie scheinbar kein großes Interesse an ihren Kollektionen hat. Eine bittere Wahrheit. Bei Haute Couture geht es natürlich um Mode – aber nur soweit Businesspläne und Renditeerwartungen von Investoren es zulassen.
Zum Einstand: Die Haute Couture bestreiken
Viktor Horsting and Rolf Snoeren hatten gedacht, nach der Auszeichnung würden die Augen aller auf ihnen ruhen. Aber es passierte nichts. Sie reagierten auf eine ihnen typische Weise. Sie pflasterten Paris mit Plakaten voll, in denen sie einen Streik verkündeten. Im Katalog-Interview heißt es dazu: "Also dachten wir: Verdammt, wir machen keine Kollektion, wir streiken. Wir machten dieses Plakat mit der Aufschrift 'Viktor&Rolf im Streik', schickten es während der Pariser Modewoche an die internationale Presse und klebten es an die Wände von Paris. Das war noch vor dem Internet – heute würde man einfach einen Post veröffentlichen. Und dann war sie wieder da. Diese ohrenbetäubende Stille." Trotzdem machten sie weiter. Und präsentieren dann 1998 tatsächlich ihre erste Haute-Couture-Show.
70 Kilo Stoff an einem Model
Tatsächlich dauerte es noch ein weiteres Jahr, bis sie mit ihrer Kollektion "Russian Doll" erste Erfolge feierten. Ebenso wichtig wie die Kleider war deren Präsentation. Hier begann, was sich später zum Markenzeichen entwickeln sollte: Viktor&Rolf waren die ganze Zeit auf dem Laufsteg. Sie trugen das Model Maggie Rizer hinein und zogen ihr nach und nach alle neun Kleider an. Übereinander! Am Anfang trug Rizer nur ein grobes Jute-Minikleid mit eingerissenem Saum. Ein Affront gegen die Materialbesessenheit der Haute Couture - das glich eher einem Sack als einem Kleid. Am Ende soll sie 70 Kilo Stoff auf ihren Schultern getragen haben. Und die Kleider? Irgendwas zwischen dem Bauernstoff Jute, Anklängen an russische Trachten und aufwändigen Stickereien. Einerseits eine sehr konzeptuelle Performance. Andererseits irgendetwas sehr Berührendes, sehr Schönes. Und sehr schön in der Ausstellung als Idee präsentiert: Neun Puppen in Miniaturformat zeigen die neun Kleider hintereinander.
Warum nur ein Model?
Und die Idee dahinter? So meine Frage! Bei Modenschauen sei alles festgelegt: die Models, der Auftritt des Designers, die Abfolge der Einzelstücke. Von Anfang an, so Viktor Horsting, habe sie interessiert, wie sie diesen rituellen Ablauf auflösen können. "Wir benutzen Mode auf eine andere Weise", sagt Viktor Horsting: "Uns geht es darum, mehr als Styles zu zeigen: Emotionen und Personalität. Manchmal sogar eine Reflexion der Mode selbst." Eine ganz einfache Antwort gaben sie auch noch als Grund an: "Wir hatten kein Geld. Deswegen nur ein Model. Denn Models kosten Geld."
Malerei als Kleid
Schon von Beginn an zeigten sie Arbeiten auch in Kunstgalerien, etwa Installationen, die mit Kleidungsstücken Kunstgeschichte einzufangen versuchten. Niederländische Museen kauften Werke - die holländische Förderung für junge Künstlerinnen und Künstler mag da geholfen haben. Allerdings waren sie auch schon früh an Ausstellungen in renommierten Museen beteiligt. Diese enge Verbindung zur Kunstwelt zieht sich durch ihre gesamte Karriere. Ihre Kollektion First Couture zeigten sie 1998 in der renommierten Pariser Galerie Thaddaeus Ropac. Mode und moderne Kunst - damit sind sie nicht allein in der Haute Couture. Schon Yves Saint Laurent hatte mit dem Mondrian-Hängerkleidchen Malerei und Mode miteinander verbunden.
Kunst zum Anziehen
Viktor&Rolf gingen einen Schritt weiter. Ihre Winterkollektion 2015 nennen sie "Wearable Art" – Kunst zum Anziehen. Die Kleider sehen so aus, als bestünden sie aus Gemälden. Allerdings aus welchen, die sehr unsanft behandelt wurden. Die Leinwände hängen lose in den Rahmen, die Rahmen wirken, als habe sie jemand an mehreren Stellen zersägt und wieder zusammengeklebt: kein Bild ist ganz geblieben. Ist das Vandalismus als Mode? Bemächtigung durch Zerstörung? Dekonstruktion? Oder einfach hinreißend wilde Mode, die sich einfach was traut? Tatsächlich geben sie auf die Frage, ob ihre Entwürfe Mode oder Kunst seien, eine einfache Antwort: "Warum kann es nicht beides sein?!"
Ein Kleid, quergelegt
Klassische Fragen an Mode sind: Ist das tragbar? Ist das untragbar? Oder noch genauer: Sind die Entwürfe von Viktor&Rolf für jeden/jede tragbar? Da ist die Modewelt bzw. die Modeberichterstattung voreingenommen. Denn solche Fragen stellt kaum jemand, wenn wieder mal dürre Zero Size Models elegante Roben vorführen, in die nur sehr, sehr wenige Frauen hineinpassen. Das gilt als normal, als tragbar. Vermutlich sind Viktor&Rolf von dieser Frage genervt gewesen. Jedenfalls haben darauf eine wunderbare Antwort gegeben. Ein wiederkehrendes Stilelement sind Kleider, die so aussehen, als wären sie angeklebt, angepappt, sogar quergelegt zum Körper. Das Model trägt ein Korsett, das Kleid ist in Hüfthöhe angebracht, so würde das Model statt eines Kleides eine Anziehpuppe mit Kleid tragen.
Für Prinzessinnen mit Köpfchen
Haut-Couture-Roben sind immer Hingucker – üppig Stoff und Verarbeitung zelebrierend. Sie machen aus Frauen Prinzessinnen, degradieren sie aber auch zu etwas, das nur schön ist (was natürlich auch einen Wert darstellt). Die quergelegten Kleider von Viktor&Rolf wollen einen anderen Typ von Trägerin. Die weiß, dass sie angestarrt wird, aber das zum Thema macht. Die nicht eine hübsche Schaufensterpuppe sein will. Sondern zeigt, dass sie die Funktion von Haute Couture versteht (und nicht willenlos befolgt). Und die den male gaze veräppelt: die Reduzierung der Frau auf einen (schönen) Körper. Ich bin schlau, verspielt, ironisch – nicht ein Objekt für den Mann. Das ist die Aussage dieses Kleides. Ein anderes Kleid in der Ausstellung ist noch deutlicher. Auf dem steht dick gedruckt: "Princess? No Bitch, Queen". Frauen, die diese Mode tragen, wollen keine hübschen Anziehpuppen sein, sondern Herrscherinnen.
Robe aus Bettdecken
Es gibt bei Viktor&Rolf Kleider, die wie übergeworfen, wie nur halb angezogen aussehen. Neben solchen, die komplett darauf verzichten, das angebliche Gesetz der Mode, die Trägerinnen und Träger zu umschmeicheln, einzulösen. Eines aus der "The Immaculate Collection haute couture collection" von 2018–19 sieht aus, als trage die Frau nicht ein Kleid, sondern kuschele sich in ein riesiges Federbett. Ja, das ist erotisch. Ob es tragbar ist? Das sollen die Frauen selbst entscheiden. Und wenn die Trägerin ein wenig angeben will, dann zitiert sie Till Eulenspiegel. Von dem gibt es eine Geschichte, dass er sich sein Bett an den Rücken schnallen ließ, um bei der Arbeit weiterzuschlafen. Nein, diese Geschichte würden sie nicht kennen, meinten sie schmallippig im (leider sehr kurzen) BR-Interview.
"Kleid trifft Körper"
Auffällig an ihrer Bedtime-Kollektion: Designer und Designerinnen inszenieren fast immer Körper. Viktor&Rolf machen das auch, aber auf eine unverwechselbare Art und Weise. Es ist so, also ob sie dem Kleid den Körper nur beistellen. Das Kleid ist ihnen definitiv wichtiger. Und sie denken es nicht von den Beschränkungen her, die der Körperbau mit sich bringt: "Lange Zeit hatten wir Kleider entworfen, die vom Körper getrennt waren, wobei der Körper eigentlich keine Verbindung mehr zu dem hat, was getragen wird. Kleid trifft Körper, oder Körper trifft Kleid. Es ist fast wie eine zufällige Begegnung im Raum zwischen einem Kleidungsstück, das völlig autonom ist, und einem Körper; sie kollidieren einfach zufällig. Wenn wir so darüber nachdenken, ist das ein perfektes Beispiel dafür, wie wir unsere Arbeit empfinden: Die Kleidung ist autonom, und sobald wir sie so präsentiert haben, wie wir sie sehen, geben wir sie aus den Händen."
Mode als Statement
Fashion Statements heißt die Ausstellung – und das trifft den Kern der Kunst von Viktor&Rolf. Es geht Viktor&Rolf nicht um Styles, nicht in erste Linie um Schönheit, wobei einige Arbeiten hinreißend schön sind – und auch schlau. Ihre Kleider sind Skulpturen. Sie können getragen werden. Einige kann man auch an die Wand hängen. Die Münchner Ausstellung gelingt es, die Ideen, die hinter den Kollektionen stecken, präzise und aufgeregt zu zeigen. Sie ist ein Augenöffner: Die Ausstellung zeigt, wie Mode funktioniert – und dass Kleider manchmal gerade deswegen so schön sind, weil sie für den Körper UND den Kopf gemacht sind.
Die Austellung "Viktor&Rolf Fashion Statements" läuft bis zum 6.10.2024. Der Katalog zur Ausstellung ist bei Hirmer erschienen.