Findungskommission für die neue Berlinaleleitung mit Tuttle und Kulturstaatsministerin Claudia Roth
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Findungskommission für die neue Berlinaleleitung mit Tuttle und Kulturstaatsministerin Claudia Roth

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Neue Leitung der Berlinale: Erstmals Frau an der Spitze

In Berlin wurde heute die neue Leitung der Berlinale vorgestellt: Die gebürtige US-Amerikanerin Tricia Tuttle wird alleinige Intendantin und beerbt nach den Filmfestspielen 2024 die Doppelspitze Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Weißer Rauch ging nicht auf über dem Kino-Saal des Martin-Gropius-Baus, in den Kulturstaatsministerin Claudia Roth um 12 Uhr mittags gebeten hatte, um höchstpersönlich die neue Leitung der Berlinale zu verkünden und vorzustellen. High Noon. Eine kleine Sensation war der Termin trotzdem: Erstmals wird eine Frau einem der drei weltweit bedeutendsten Filmfestivals neben Cannes und Venedig vorstehen – die 53jährige Tricia Tuttle. Mit ihr hat als zukünftiger Berlinale-Leiterin keiner gerechnet. Bei den ganzen Namen, die im Vorfeld genannt wurden, war sie nicht dabei. Eine Frau, die bisher gewissermaßen unter dem Radar in der Branche arbeitete. Nicht mal einen Wikipedia Eintrag hatte sie bis heute Mittag. Das wird sich nun schnell ändern.

Vom "Terminator" bis zu "Portrait einer jungen Frau in Flammen"

Tricia Tuttle leitete über viele Jahre das "British Film Institute" und in diesem Zusammenhang auch das "BFI London Film Festival" und "BFI Flare: London LGBTQIA+ Film Festival". Ihr Filmgeschmack, den sie in einer persönlichen Best-of-100-Liste veröffentlichte, wirkt offen und divers: Da ist alles dabei – von James Camerons "Terminator" über Ingmar Bergman und Wong Kar Wai bis zu Céline Sciammas feministischem Thriller "Porträt einer jungen Frau in Flammen". Unter ihre Liste schrieb Tuttle: "Sie würde jedes Mal anders ausfallen, auch wenn ich sie diese 100 Mal machen würde."

Tricia Tuttle – neugierig und offen

Tuttle gilt als Frau, die vom Kino als Kunst und als Gemeinschaftserlebnis fasziniert ist, die sich aber nie einer bestimmten Stilrichtung oder einem Kanon verschrieben hat. In diesem Zusammenhang zitierte sie kürzlich den früheren Redakteur von "Sight and Sound", Nick James, der über den Zusammenbruch traditioneller Vorstellungen von Kanon und Cinephilie gesagt hatte: "Cinephilie ist kein einheitliches Glaubenssystem, sondern eine Reihe subjektiver, sich überschneidender, sich verändernder individueller Kanons, die durch Befürwortung und Debatte zusammengehalten werden."

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Tricia Tuttle

Ein Filmfestival ist mehr als ein Filmfestival

Tricia Tuttle gab nach ihrer Vorstellung ein kurzes Statement ab – konkrete Pläne für eine Reform der Berlinale gab sie aber natürlich noch nicht bekannt. Erst ab April 2024 wird sie die Leitung übernehmen. Allerdings machte sie schon mal klar, welche Bedeutung das Festival in der deutschen Hauptstadt für sie hat: "Wir leben in sehr turbulenten und herausfordernden Zeiten – und Festivals sind in diesem Zusammenhang wichtiger denn je: Sie kreieren Gemeinschaft, bringen Leute zusammen und formulieren Ideen. Sie bieten einen Raum für einen offenen Dialog, für Kunst, Entdeckungen und gegenseitiges Verständnis. Festivals spielen nicht nur kulturell eine wichtige Rolle, sondern auch wirtschaftlich und gesellschaftlich. Und ich weiß es und erfahre es gerade immer wieder: Unter jungen Leuten gibt es eine neue Begeisterung für das Kino. Das muss die Berlinale unterstützen und immer wieder daran erinnern, welche Freude es ist, Filme gemeinsam in einem Raum zu sehen – zusammen zu weinen und zu lachen."

Abschied von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek

In der Filmszene, national wie global, wurde in den letzten Tagen und Wochen viel über mögliche Kandidaten für die Nachfolge von Carlo Chatrian, des künstlerischen Leiters, und Mariette Rissenbeek, der Geschäftsführerin der Berlinale, spekuliert. Das Duo hatte die Filmfestspiele 2020 als Doppelspitze übernommen. Nach der nächsten Ausgabe im Februar 2024 werden sie zurücktreten bzw. laufen ihre jeweiligen Mandate aus. Richtig angekommen sind sie nie in Berlin. Immer wieder wurde Ihnen vorgeworfen, weder nach innen noch nach außen umfassend, transparent und vor allem herzlich zu kommunizieren.

Umstrittene, heftig kritisierte Entscheidung

Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek hatte bereits nach der letzten Berlinale ihren Rücktritt angekündigt. Als dann Claudia Roth, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, im September mit ihrer Entscheidung, zukünftig auf die Doppelspitze des Festivals zu verzichten und stattdessen zum Intendantenmodell zurückzukehren, an die Öffentlichkeit ging, war die Aufregung groß. Es bedeutete das Aus für den künstlerischen Leiter Carlo Chatrian. Eine wütende internationale Reaktion folgte. Mehr als 400 Filmemacherinnen und Filmemacher kritisierten Roth in einem offenen Brief, darunter Martin Scorsese, Margarethe von Trotta, Paul Schrader, Kirsten Stewart und Olivier Assayas. Sie wollten vor allem ihrem Freund Chatrian helfen und verurteilten die Entscheidung von Roth. Die zeigte sich unbeeindruckt, und setzte eine Findungskommission für die Suche nach einer neuen Leitung ein. Die gibt es jetzt. Vielleicht ist Tricia Tuttle die Idealbesetzung. Das wird sich zeigen. Zumindest der Beginn heute war sehr vielversprechend.

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