Mit Spinnweben wurden sie schon verglichen, mit Nebel, der in der Sonne verschwindet. Träume sind schwer festzuhalten und noch schwerer zu verstehen. In seinem Roman "Homeland Elegien" schreibt der New Yorker Autor Ayad Akhtar von einem ganz besonderen Einschlaf-Ritual: "Viele Jahre lang legte ich vor dem Zubettgehen ein Notizbuch auf den Nachttisch und band einen winzigen Bleistift an meinen Zeigefinger." Ayad Akhtar macht das, um seine Träume aufschreiben zu können, kaum dass er aufgewacht ist.
Träume sind elektrophysiologische Aktivität
Dass sie etwas mit der Psyche, mit der Seele zu tun haben, darin sind sich alle einig. Rahul Jandial ist Neurowissenschaftler, kommt also aus der Naturwissenschaft. Er definiert Träume physikalisch: "Träume sind das Produkt der ganz normalen elektrophysiologischen Aktivität unseres Gehirns und stellen doch gleichzeitig eine außergewöhnliche Veränderung dar, die sich jede Nacht während des Schlafs in unserem Gehirn vollzieht."
Zuerst irritiert dieser naturwissenschaftliche Sound. Träume sind nichts weiter als elektrische Entladungen im Gehirn, wenn wir schlafen? Und was ist mit Freud, mit Jung, mit all den Traumgeschichten und Traumnovellen in Romanen und Filmen? Aber Jandial bringt auch mit seiner naturwissenschaftlichen Sicht viel Faszinierendes aus der Traumwelt in die Realität: "Obwohl wir unsere eigenen Träume schaffen, können wir die Traumerfahrung willentlich nicht beeinflussen. In diesem Sinne sind wir eher Hauptdarsteller, aber nicht der Regisseur."
Der positive Effekt von Albträumen
Als Autor ist Rahul Jandial ein souveräner Regisseur. Mit einem alle umfassenden Wir, mit zahlreichen Zusammenfassungen wichtiger Ergebnisse, mit Anekdoten wirkt sein Text manchmal wie aus dem Baukasten für das erfolgreiche populäre Sachbuch.
Doch je länger man ihm folgt, desto spannender werden seine Erkenntnisse. Zum Beispiel kann Rahul Jandial sehr schlüssig erklären, warum Albträume für Kinder einen guten Effekt haben können. "Ein Albtraum ist letztlich der Kampf des Selbst gegen andere. Das ist ein ausgezeichneter Weg, um ein Kind mit der Vorstellung vertraut zu machen, dass es ein eigenes Wesen ist, mit einem eigenen Willen und einem eigenen Platz in der Welt."
Träume sind Bausteine unseres Selbst
Der Neurowissenschaftler Jandial lässt keinen Zweifel: Die Grundlage unserer Träume sind in den neuronalen Netzen in unserem Gehirn zu finden. Und gleichzeitig öffnet er seinen und unseren Blick für die Wirkung der Träume auf unser Selbstbild und Selbstverständnis. Sie sind gerade in ihrer Flüchtigkeit ein wesentlicher Baustein unseres Selbst. Wer seine Träume interpretiert, der kann seinen Erfahrungen Sinn verleihen und seine Emotionen auf eine neue Art und Weise verstehen. Sie müssen sich dafür des Nachts auch keinen Bleistift an den Finger binden.
"Warum wir träumen. Was unser Gehirn im Schlaf über unser Leben offenbart" ist ein Buch von Rahul Jandial. Aus dem Englischen übersetzt hat es Elisabeth Liebl. Erschienen ist es im Rowohlt Verlag.
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