"Ich hatte diese Idee und ich dachte – die ist toll. Und mein zweiter Gedanke war - leider schreibe ich keine Thriller." Es habe ihn auch überrascht, dass er auf einmal diesen harten Plot im Kopf hatte, sagt Marc-Uwe Kling. Thriller – ziemlich humorloses Genre. Andererseits ist das Experimentieren mit den verschiedensten Formen schon länger sein Privileg.
So sieht er es selbst und spricht vom "Genre-Hopping". Zuletzt kam eine "Fantasy-Krimi-Kömödie" dabei heraus. Veröffentlicht gemeinsam mit seinen beiden Töchtern, als die ein 'Schriftsteller-Praktikum' bei ihm machen wollten ("Der Spurenfinder"). Vorteile des Erfolgs: Der Verlag macht solche Volten gerne mit. Ebenfalls im Klingschen Angebot sind Kinderbücher ("Das Neinhorn"), Science fiction, Spiele, Drehbücher, Comics, Live-Auftritte. Und jetzt eben ein Thriller. Der sich für Kinder übrigens definitiv nicht eignet.
Ein Mädchen verschwindet, dann taucht ein Vergewaltigungsvideo auf
Lustig ist "Views" nicht. Abgesehen von einer Dating-Szene am Anfang und ein paar Sprüchen des Ermittler-Teams. Aber ziemlich brutal. Ein Mädchen verschwindet, ein Vergewaltigungsvideo geht auf Social Media viral, die Gewalt schwappt über auf die Straße. Um den entscheidenden Twist nicht zu verraten, muss der Autor sich in den Interviews, die er zu "Views" gibt, ziemlich winden. Aber sonst würde das Buch nicht mehr funktionieren – das stimmt schon. Und es ist auch höchste Zeit, dass jemand mal auf diese Idee kommt – danke dafür!
Das Problem des Stillschweigens ist nicht die einzige neue Erfahrung, die Kling auf dem Thriller-Terrain gemacht hat. Eine andere hängt mit der Frage zusammen, aus welcher Perspektive die Geschichte erzählt werden sollte. "Dass ich mal ein Buch aus der Sicht einer Polizistin schreibe, damit hätte ich überhaupt nicht gerechnet", sagt er und grinst. Seine Hauptfigur heißt Yasira Saad, Kommissarin im Bundeskriminalamt, libanesische Wurzeln, geschiedene Mutter einer Tochter.
In der Tat, in Klings Känguru-Chroniken/Offenbarungen/Manifest zum Beispiel kommen Polizisten und Polizistinnen nicht sehr gut weg. Ob als Satiriker, Spiele-Autor, Drehbuch-Verfasser, Kinderbuchautor – ein kritischer bis sarkastischer Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit der Bundesrepublik ist fast immer Dreh- und Angelpunkt in seinen Texten. Faule politische Kompromisse, Ausbeutung, Spaltung, über die er sich bisher cool - und erfolgreich - lustig gemacht hat. Das Känguru ließ er ein 'Asoziales Netzwerk' zum Verüben von Anti-Terroranschlägen erfinden. Social Media in "Views" ist einfach nur noch asozial.
Kling ist auf allen Social-Media-Kanälen
Dabei ist Kling im wirklichen Leben selbst auf allen Social-Media-Kanälen dabei. Warum? "Wenn die demokratische, progressive Seite sich dem weitgehend verweigert – wenn auch aus guten Gründen – dann überlässt man das Spielfeld den rechten und rechtspopulistischen Gruppierungen. Dann kriegt man ein Ergebnis wie jetzt bei der Europawahl, wo sehr viele Jugendliche AfD gewählt haben. Das heißt, es gibt durchaus auch einen politischen Grund, warum ich da mitmache, obwohl ich die Player kritisch sehe."
"Views" ist – jenseits der notwendigen überraschenden Wendungen im Plot – geradlinig erzählte Unterhaltung mit politischem Bezug und mit teilweise ziemlich gewaltvollen Szenen. Es lässt sich problemlos ohne Kenntnis des Känguru-Kosmos lesen. Aber wer die verschiedenen Seiten des Marc-Uwe Kling kennt, hat einen sehr interessanten, zusätzlichen Aha-Effekt. Und während die Pointen in seinen Satiren eng verwoben sind und Fantasy danach strebt, in Fortsetzungen weitergesponnen zu werden (was beim Fantasy-Buch auch gerade passiert), müsse man bei einem Thriller nicht alle Erzählstränge zu Ende erzählen.
Er habe einen Epilog versucht, sagt Marc-Uwe Kling. Aber daran habe ihn eigentlich alles gelangweilt. Das Ende also ist hart – und offen.
- Marc-Uwe Kling: "Views" erscheint am 27. Juni bei Ullstein. Auch als Hörbuch erhältlich.
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