Nicht mal einen Wikipedia-Eintrag hat er. Schon eine bemerkenswerte Leerstelle. Und ein Symptom: Zeigt sich darin doch eine erstaunliche Ignoranz gegenüber dem Land, in dem so viel gebaut wird, wie nirgendwo sonst auf der Welt. Architekturexpertinnen- und experten war der Name Liu Jiakun vielleicht geläufig. Die meisten dürften ihn aber zum ersten Mal hören. Das ist also durchaus ein Verdienst der Pritzker-Jury, die sich entschieden hat, ihm in diesem Jahr den wichtigsten Architekturpreis der Welt zu verleihen.
Ein Zufall habe ihn zum Architekten gemacht, so hat es Liu der britischen Zeitung The Guardian erzählt. Künstler habe er eigentlich werden wollen als junger Mann. Und wer Architektur lernt, der lernt immerhin auch zeichnen. Also habe er sich für dieses Fach eingeschrieben.
Erst Romanautor, dann Architekt
Falsches Understatement ist das wohl nicht. Man kann Liu kaum nachsagen, er habe seine Karriere überstürzt. Ein eigenes Büro eröffnet er erst 1999, mit Mitte Vierzig. Davor sucht er nach anderen Ausdrucksformen, meditiert, schreibt.
Am bekanntesten ist seine im selben Jahr veröffentlichte Dystopie "Bright Moonlight Plan" (nicht ins Deutsche übersetzt). Darin erzählt er von einem Architekten, der eine ideale Stadt plant. Sogar den Geist ihrer Bewohner soll die Architektur hier formen. Die Sache endet in einem Desaster.
Man muss diesen Roman auch als Mahnung an sich selbst verstehen: Architektur sollte keinen neuen Menschen schaffen, sondern den Bedürfnissen derer, die mit und in ihr leben, entgegenkommen. Man könnte Liu auch einen Anti-Corbusier nennen. Der große Plan ist seins jedenfalls nicht. Beim Bauen und Entwerfen gehe es ihm eigentlich immer darum, das Utopische mit dem Alltäglichen zu versöhnen, hat Liu mal in einem Interview erklärt. Das Ergebnis: Leise, lebenswerte Architekturen.
Wie Brücken: Fußgängerrampen im West Village
Lius bekanntestes Bauwerk: Ein Einkaufszentrum
Eines seiner populärsten Bauwerke ist wahrscheinlich das West Village, ein Einkaufs- und Kulturzentrum in seiner chinesischen Heimatstadt Chengdu, einer Megacity mit über 20 Millionen Einwohnern. Ein rechteckiger Schichtbau mit riesiger, begrünter Innenfläche, ein bisschen wie in einem traditionellen chinesischen Rundbau (Tulou). Einen Rundweg über das Dach erreicht man über ellenlange Rampen, die die offene Front verschränken. Wie schräge Brücken zwischen Stadtraum und Architektur. Gezeigt wurde der Bau 2016 bei der Architekturbiennale in Venedig.
Ziegel aus Bauschutt: Nachhaltiges Bauen in China
2008 stellte Liu Jiakun dort auch seine sogenannten "Rebirth Bricks" vor. Zementziegel, gefertigt aus dem Schutt, den die verheerenden Erdbeben in der Region Sichuan hinterlassen hatten. Auch das Recycling von Baumaterial spielt bei ihm also eine Rolle. Nicht unwichtig, in einem Land, in dem etwa zwanzig Prozent aller weltweiten Bauvorhaben realisiert werden. Die New York Times hat unlängst ausgerechnet, dass China binnen drei Jahren mehr Beton verbaut hat, als die USA im ganzen Jahrhundert. Da tun nachhaltige Lösungen Not.
Die Ziegel von Liu Jiakun haben aber auch eine ideelle Komponente, sagt der Münchner Architekt und Architekturkritiker Christian Schittich. Liu sei der Ansicht, "dass die alten Gebäude gewissermaßen noch in den Steinen stecken und man sie so spirituell wieder aufbaut." Neben dem West Village in Chengdu hat er seine "Rebirth Bricks" noch in diversen anderen Projekten verwendet. Darunter verschiedene Kulturbauten, aber auch der Novartis-Campus in Shanghai.
Fassade des Novartis-Campus in Shanghai
Jurybegründung: Liu Jiakun vermittelt zwischen Realität und Idealismus
Nach seinem Generationsgenossen Wang Shu (2012) ist Liu Jiakun der zweite chinesische Architekt, der den als "Nobelpreis der Architektur" titulierten Pritzker-Preis erhält. Christian Schittich sieht darin auch ein politisches Signal. Der Preis würdige eigentlich die gesamte private Architekturszene in China. "Er ist einer von mehreren", betont Schittich. Lui sei gewissermaßen ein Stellvertreter für viele chinesische Architektinnen und Architekten, die sich nicht an den gigantischen staatlichen Bauprojekten beteiligen, sondern unabhängig arbeiten.
Die Jury selbst begründete ihre diesjährige Entscheidung damit, dass Lui zeige, "wie Architektur zwischen Realität und Idealismus vermitteln kann." Jiakun erhebe "lokale Lösungen zu universellen Visionen" und habe eine Architektursprache entwickelt, "die eine sozial und ökologisch gerechte Welt beschreibt."
Dotiert ist die Auszeichnung mit 100.000 Dollar. In den vergangenen Jahren durften sich Stararchitekten wie Zaha Hadid, Rem Koolhaas, Norman Foster, David Chipperfield oder Francis Kéré über die Ehrung freuen. Mit ihr ist der "Zufalls-Architekt" Liu Jiakun nun endgültig im Olymp seiner Zunft angekommen.
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