Bei einem Besuch des russischen Präsidenten im Hauptquartier in Rostow am Don
Bildrechte: Gavriil Grigorow/Picture Alliance

Ratlose Mienen: Putin (rechts) mit Generalstabschef Waleri Gerassimow

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Regime im Sturm": Putin-Anhänger beschimpfen sich gegenseitig

Die Nerven liegen blank unter den russischen Propagandisten. Angesichts ausbleibender militärischer Erfolge fallen sie übereinander her, werfen sich aus TV-Sendungen und wollen Oppositionelle "beseitigen". Beobachter fürchten einen "Kontrollverlust".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Kürzlich flog der russische Präsident Wladimir Putin mitten in der Nacht von Moskau ins Hauptquartier seines Generalstabs nach Rostow am Don. Den Mienen nach zu urteilen, gab es mit Militärchef Waleri Gerassimow eher Unangenehmes zu besprechen: Am Dnjepr sind ukrainische Truppen auf das russisch besetzte östliche Ufer vorgerückt. Im Kampf um die ukrainische Stadt Awdijiwka verschleißen die russischen Truppen wertvolles Material, ohne nennenswert voranzukommen, so dass aufgebrachte Militärblogger flehen: "Halten Sie inne und denken Sie nach. Das sind Echos der Taktik aus dem Ersten Weltkrieg mit ihren Abnutzungsschlachten. Wir befinden uns aber bereits auf einem ganz anderen technischen Entwicklungsstand."

Fast verzweifelt appellieren die russischen "Ultrapatrioten" an ihre eigenen Kommandeure, nicht länger auf die trügerische Überlegenheit ihrer Panzer und Soldaten zu setzen: "Wenn Sie schon nicht [den chinesischen Kriegstheoretiker] Sunzi und [den preußischen Militärstrategen] Clausewitz gelesen haben, dann erinnern Sie sich zumindest an die Worte [des russischen Kriegshelden] Suwarow, dass man nicht durch Zahlen, sondern durch Geschick und taktische Manöver gewinnt."

Ohne die nötigen Aufklärungsinstrumente könne man einen Krieg nicht mal beginnen, geschweige denn in eine Schlacht ziehen: "Kommunikationsmittel müssen nicht nur aufgebaut, eingerichtet und verteilt, sondern auch getestet und eingeübt werden, und zwar im Idealfall nicht nur innerhalb beispielsweise der eigenen Brigade, sondern auch im Austausch mit benachbarten Einheiten." Die russische Artillerie lasse "viel zu wünschen übrig", warnen Eingeweihte.

"Wir befinden uns in einer Art Sackgasse"

Ein Mann wie der russische Haudegen Alexander Chodakowski erinnerte an die britischen Großkampfschiffe, die "Dreadnoughts", die im Ersten Weltkrieg absolut nutzlos gewesen seien: "Riesige, mit modernster Technologie vollgestopfte Maschinen verloren den Krieg durch banale Minen und Torpedos und wurden zur Verschrottung gebracht. Die aktuelle Situation ist ähnlich: Flugzeuge und Panzer können als Königsklasse der Ingenieurskunst dem Wettbewerb mit primitiven Waffen nicht standhalten. Wir befinden uns in einer Art Sackgasse der Entwicklung, wenn billige Munition das zerstört, woran eine ganze Industrie gearbeitet hat." Es sei inzwischen so gut wie unmöglich, insgeheim Angriffe vorzubereiten, weil die Ukraine überlegene Satelliten-Aufklärung nutze.

Militärexperte Grigoriy Sarbajew wollte ebenfalls keinerlei Optimismus verbreiten: "Wir befinden uns im Übergang zu einem schwierigen, erschöpfenden Stellungskrieg, der menschliche und materielle Ressourcen verschlingt. Jede Seite sucht nach Möglichkeiten, die Reserven aufzufüllen. Trotz aller Hurra-Rufe der Parteien gilt: 'Im Westen nichts Neues.'"

"An der Zeit, über Skandale zu sprechen"

Angesichts solch düsterer Nachrichten wundert es nicht, dass die Nerven bei Putins Gefolgsleuten blank liegen. Besonders drei "Skandale" sorgen dafür, dass einer der Blogger das ganze Regime bereits einem "Sturm" ausgesetzt sieht: "Obwohl das noch kein Signal für einen Kontrollverlust ist, ist es bereits ein Zeichen für ein unterschiedliches Vorgehen der verschiedenen Kreml-Machtgruppen und ihrer verzerrten Wahrnehmung der harten und unbarmherzigen Realität." Selbst der devote Politologe Sergej Markow schrieb: "Es ist an der Zeit, über Skandale zu sprechen." Er sprach von "Lügen und Beleidigungen", die auf den ersten Blick allerdings nicht alle etwas mit der Lage an der Ukraine-Front zu tun haben, weil die Nahostkrise die Gemüter zusätzlich erhitzt.

"Stinkende Schnapsdrossel": TV-Moderator rausgeworfen

Konkret meinte er den TV-Moderator Jewgeni Satanowski, der seinen Job verlor, weil er die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, als "stinkende Schnapsdrossel" geschmäht hatte, die Israel und die Juden "nicht ausstehen könne". Dafür musste sich Satanowskis Arbeitgeber, der prominente TV-Propagandist Wladimir Solowjow, einer der leidenschaftlichsten Putin-Lobhudler, entschuldigen. Damit nicht genug: Der geschasste Satanowski hatte auch den stellvertretenden russischen Außenminister und Putins Nahostbeauftragten Michail Bogdanow als "versoffen" beschimpft: "Er will nichts Schlimmes, aber er ist 71 Jahre alt. Er muss über seine Zukunft nachdenken und Israel zahlt nicht. In der islamischen Welt schwimmt er dagegen im Geld." Damit unterstellte Satanowski dem Politiker Korruption, was gar nicht gut ankam.

"Satanowski wollte Putin beleidigen, wagte es aber nicht. Solowjow löste die Spannung. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs", kommentierte der prominente Rechtsaußen Alexander Dugin den Vorgang. Andere wollten gar eine "unerwartete Spaltung" im Propagandisten-Lager erkennen, weil sie sich über ihre Position gegenüber Israel nicht einig wurden. Satanowski selbst wollte keine "große Sache" aus seinem Fall machen, bezeichnete sich als "viel beschäftigt" und im "Ruhestand", wo er auch bleiben werde.

"Fäulnis in der Gesellschaft"

Ebenso viel Aufsehen erregte ein weiterer Studiogast des erwähnten Solowjow. Der Abgeordnete Andrej Gurulew behauptete, rund achtzig Prozent der Russen stünden Putin zur Seite. Er lobte das "Ausmaß der Einigkeit". Gleichzeitig sagte er über den verbleibenden Teil der russischen Bevölkerung: "Ich möchte, dass all diese Fäulnis in unserer Gesellschaft, die übrig bleibt, wenn schon nicht beseitigt, dann zumindest irgendwie isoliert wird." Aufgeben sei gleichzusetzen mit einer "Zerstörung des Staates", rechtfertigte sich Gurulew im Nachhinein für seine Worte: "Ist das die Opposition oder sind das Feinde? Sie sind wahrscheinlich Feinde, oder? Und wenn sie Feinde sind, dann müssen sie wie Feinde behandelt werden." Damit schockierte der Rechtsradikale nicht wenige Blogger.

Der viel zitierte Sergej Udalzow schrieb: "Die Fans der Machthaber haben die Seiten völlig durcheinander gebracht. Es gibt bereits Forderungen nach Massenvergeltungsmaßnahmen gegen diejenigen, die mit der Politik des Kremls nicht einverstanden sind. Und das sind für den Moment mindestens zig Millionen Menschen. Heute werde ich einen Appell an die Generalstaatsanwaltschaft richten, damit sie Gurulew auf Extremismus überprüft. Obwohl die Staatsanwaltschaft höchstwahrscheinlich so tun wird, als sei alles in Ordnung."

Sarkastisch gab sich die Chefkolumnistin eines der größten russischen Telegramm-Portale mit 500.000 Fans, Ekaterina Winokurowa: "Ich dachte erst darüber nach, einen langen Beitrag über Gurulew zu schreiben und ihn abzufertigen, aber dann dachte ich mir, ich werde mich auf die Bemerkung beschränken, dass er mich sehr an die Deutschen aus sowjetischen Filmen erinnert, wissen Sie noch?"

"Überhitzung im Dampfgarer"

Ein weiterer Blogger gab sich über Gurulews Vernichtungsfantasien ausgesprochen bestürzt: "Schwarz wird auch in Russland nicht unbedingt weiß und umgekehrt, aber ernsthafte Forderungen nach solchen Veränderungen stehen bereits stillschweigend oder sogar mit ausdrücklicher Zustimmung hoher Autoritäten auf der Tagesordnung. Möglicherweise sind die ablaufenden Prozesse vollständig gesteuert, was unerwartete Variationen beim Dampfablassen darstellt. Der Topf wird gerade durch äußeren und inneren Druck getestet. Doch das Ablassen von Dampf ist eine ebenso hohe Kunst wie das Verhindern einer Überhitzung im Dampfgarer, denn bei einer starken Überschreitung der Belastungsgrenze birgt beides die Gefahr erheblicher Probleme und unvermittelter Szenarien."

"Wollen die Leute das?"

Der kremlfreundliche Politologe Ilja Graschtschenkow vermutet, Gurulew sei wie alle anderen Gäste der Propaganda-Talkshow von Wladimir Solowjow bereits von "Atomschlag"-Begierden geistig verwirrt: "Letztendlich ist er nicht der Erste und auch nicht der Letzte, der die Unterdrückung so sehr herbeisehnt; [Der rechtsextremistische Kreml-Vordenker Alexander] Dugin fordert sie schon seit langem. Die andere Frage ist: Wollen die Leute das? Hier antwortet uns die Soziologie eindeutig: Nein, das wollen sie nicht. Es gibt keine solche Sehnsucht, sondern das Gegenteil – nach Ruhe und Normalisierung des Lebens. Daher sind blutrünstige Tyrannen [wie Gurulew] eindeutig eine marginale Minderheit und können ihre Wut getrost auf etwas anderes, Konstruktiveres richten."

Graschtschenkow bezweifelte offen, ob wirklich nur zwanzig Prozent der Russen gegen Putin seien. Die Zahl könne bei einem geeigneten Oppositionskandidaten viel höher liegen: "Das Schwungrad der Repression setzt immer eine Lotterie in Gang, bei der nicht jedem das persönliche Überleben garantiert ist. Im Gegenteil, sehr oft finden sich die Initiatoren und Henker sehr schnell an Stelle der Opfer. Unser Volk versteht das nicht nur, es spürt es auch hautnah, denn hier kommt die historische Erinnerung [an die stalinistischen Säuberungen] ins Spiel." Womöglich handle es sich bei der von Gurulew beklagten "Fäulnis" sogar um heilendes "Penicillin".

Menschenrechtsaktivistin Eva Merkaschewa stimmte zu: "Ich möchte Gurulew an unsere Geschichte erinnern: Jeder, der zur Repression aufrief, wurde später selbst zum Opfer. Es ist eine Schande, dass wir daraus nie etwas gelernt haben." Voller Spott hieß es in einem weiteren Blog über Gurulew: "Die Phänomenalität dieses Bürgers kommt darin zum Ausdruck, dass seine Äußerungen oft in Anführungszeichen wiedergegeben werden. Und das nicht, weil die Zitate voller Weisheit sind."

"In welchem Rechtsstaat leben wir eigentlich?"

Den dritten aktuellen Anlass für Aufruhr in den russischsprachigen Medien steuerte der Regionalabgeordnete Asat Kamajew bei, der vom Rednerpult des Parlaments von Tatarstan aus gesagt hatte: "Die erste Frage, die ich mir gestellt habe: In welchem ​​Rechtsstaat leben wir eigentlich? Das Oberhaupt eines Teilgebiets der Russischen Föderation [Tschetschenien] verleiht seinem Sohn den Titel eines Helden, weil der einen Gefangenen geschlagen hat. Er knüpft daran an und behauptet, dieser Adam Kadyrow sei sogar der Held aller Muslime. Wer kann darauf antworten?" Tatsächlich lässt sich Putins eifriger Propagandist und Gouverneur Ramsan Kadyrow dafür feiern, dass sein 15-jähriger Sohn einen Häftling tätlich angegriffen hat, der wegen angeblicher Koran-Verbrennung vor Gericht steht.

"Jeder zerstört sich selbst, so gut er kann"

Für Putins Regime ist das brandgefährlich, weil es in Russland viel Islam-Skepsis gibt, gerade auch unter den aktivsten Militärbloggern und Patrioten. Gleichwohl hatte Putin Kadyrow senior demonstrativ im Kreml empfangen und nicht getadelt, wohl um Ruhe im traditionell aufsässigen Tschetschenien zu haben. Die Kaukasus-Region ist durch den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ohnehin politisch aufgewühlt. Ein Vertreter der Putin-Partei "Einiges Russland" entschuldigte sich für die Klage des Abgeordneten Kamajew, der auf seine aufsehenerregende Frage natürlich keine Antwort bekam. Stattdessen wurde der Mitschnitt der Parlamentsdebatte gelöscht, auch alle Bezüge auf die Äußerung in den sozialen Medien des Parlaments von Tatarstan.

Unter den Lesern der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" überwog die Ironie: "Der Abgeordnete fragte, in welchem ​​rechtlichen Rahmen er lebe. Sie antworteten ihm. Er entschuldigte sich. Er hat jetzt keine weiteren Fragen mehr. Es ist seltsam, dass er diese Frage überhaupt gestellt hat." Ein weiterer meinte: "Was ist daran komisch? Haben Sie selbst den Mut, öffentlich über die Gesetzlosigkeit in Tschetschenien zu sprechen? Diese Geschichte hat deutlich gezeigt, dass es in der Russischen Föderation keine Gesetze für Kadyrows Volk gibt und alle russischen Strafverfolgungsbeamten einfach rückgratlose Feiglinge sind, die den Willen des Vorgesetzten ausführen. Wenn ein solches Land wie die Sowjetunion, die auf Lügen aufgebaut war, zusammenbrach, besteht keine Notwendigkeit, im Westen nach Schuldigen zu suchen, jeder zerstört sich selbst, so gut er kann."

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!