Ein intimer Moment: Die kleine Sol und ihre Mutter auf einer öffentlichen Toilette. Auf dem Klo. Draußen klopft jemand, weil sie so lange brauchen. Die beiden singen. Himmlische Töne, mit denen in Mexiko den Toten gedacht wird. Dann sitzen Mutter und Tochter im Auto, der Rückraum voller Luftballons. Sie spielen während der Fahrt Spiele – etwa: in einem Tunnel die Luft anhalten. "Ich kann nicht mehr", platzt es aus Sol heraus. Mit dokumentarischer Handkamera sind diese Szenen gefilmt, nah dran an den Menschen, getragen von einer schönen Unmittelbarkeit, so als säßen wir Zuschauerinnen und Zuschauer mit im Auto. Darf man sich etwas wünschen? "Dass Papa nicht stirbt", sagt Sol – und die Leinwand wird erstmal schwarz.
Dann ein Tag in einer mexikanischen Großfamilie. Man trifft sich zum Geburtstag des Vaters von der siebenjährigen Sol, einem Künstler, der an einer bösartigen Krebserkrankung leidet. Seine geringen Immunkräfte verbieten eigentlich eine solche Feier, er darf niemanden sehen, niemandem begegnen. Sogar seine kleine Tochter wird von ihm ferngehalten. Sol hofft natürlich, ihren Papa anlässlich der Feier wiederzusehen. Ein absurder Moment. Menschen kommen zusammen, um einen der Ihren hochleben zu lassen, aber der, der da gefeiert werden soll, bleibt isoliert in dem weitläufigen Haus mit großem Garten, während die Vorbereitungen für das Fest beginnen. Es wird geputzt, gekocht und gebacken. Geister werden ausgetrieben, und immer mehr Familienmitglieder und Freunde treffen ein.
Begegnungen zwischen Leben und Tod
Regisseurin Lila Avilés inszeniert diese Momente als magisch aufgeladene Begegnungen zwischen Leben und Tod. Geheimnisse werden gelüftet und Wahrheiten ausgesprochen. Eine Feier ohne den Gefeierten entspinnt sich, mal ausgelassen, mal traurig. Der Tod ist ein Teil der menschlichen Existenz – hier fördert er, vergleichbar der Situation bei einer Trauerfeier, den Zusammenhalt und wirkt befreiend. Eine gemeinschaftlich empfundene Lebensfreude wird zelebriert.
Ein kleines Wunder ist dieser Film, in seiner Schwerelosigkeit, in seinen mäandernden Kamerabewegungen durch eine Großfamilie. Auf der letzten Berlinale wurde er mit dem ökumenischen Filmpreis ausgezeichnet. Ob Tona, der Schwerkranke, doch noch an der Feier um ihn herum teilnimmt, ob er sich nicht doch noch diesem Fest für ihn nähert, sei hier nicht verraten.
Einer der schönsten Berlinale-Filme des Jahres
Immer wieder fesseln intime Momente, die Lila Avilés nicht ausinszeniert, sondern wie zufällig beobachtet. Die kleine Sol streift durchs Haus, zerbricht eine Vase, nimmt aus einer offenen Flasche Wein, die sie findet, einen Schluck. Torte gibt es auch, und auf ihr eine sprühende Wunderkerze. Der Kuchen ist mit einer Glasur überzogen, die ein Gemälde von Vincent van Gogh nachbildet. Ein flirrendes Sommerbild. Ähnlich impressionistisch ist dieser Film. Mag einem das nun "voll kitschig" vorkommen, wie die siebenjährige Tochter die Torte beargwöhnt – oder auf den Punkt treffend, jene flirrende Grenze zwischen Leben und Sterben auslotend? Das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Sol jedenfalls schließt die Augen, öffnet sie dann wieder und blickt im Kerzenschein lange in die Kamera. Am Ende ertönen wieder magische Gesänge, wie schon zu Beginn.
"Tótem" von Lila Avilés: ab 9.11. im Kino
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