Wer jemals vor einem Gemälde von Anselm Kiefer stand, weiß: Der 78-jährige Deutsche wird nicht von ungefähr als Großkünstler bezeichnet. Seine von Schwarz- und Grautönen dominierten Werke haben gigantische Ausmaße. Sie sind raumgreifend, mit zentimeterdicken Materialüberlagerungen aus Blei, Stroh, Asche, Sand oder Holz, vielschichtig in Textur und Deutung. Sie sind monströs und unschuldig, archaisch und modern zugleich. Das Gefühl der Überwältigung stellt sich fast automatisch ein.
Wenn wuchtige Skulpturen tanzen
Umso verblüffender ist es, dass es Wim Wenders gelingt, Kiefers zentnerschweren Tableaus das erschlagende Element zu nehmen und seine ähnlich wuchtigen Skulpturen aus Stein und Beton zum Tanzen zu bringen. Für seinen Dokumentarfilm "Anselm – Das Rauschen der Zeit" hat Wenders seinen Freund über einen Zeitraum von zwei Jahren immer wieder in Südfrankreich besucht. In der abgelegenen Gemeinde Barjac hat Anselm Kiefer vor drei Jahrzehnten eine Fabrikruine samt angrenzendem Wald erworben.
Das 40 Hektar große Grundstück ist mittlerweile ein öffentlich zugänglicher Skulpturenpark. Im Vergleich zu seinen weltweit ausgestellten Museumsstücken gehen Natur und Kunst hier eine noch tiefer gehende Symbiose ein: Viele Werke stehen im Freien, werden von der Sonne ausgebleicht, von der Witterung weitergeformt und bringen selbst einen ausgewiesenen Kunstkenner wie Wenders zum Staunen.
Großer Einsatz für große Bilder
Im Film wird auf Kommentare, ob vor oder hinter der Kamera, weitestgehend verzichtet. Der Regisseur setzt wie Anselm Kiefer ganz auf die Macht der Bilder. Damit diese entsprechend zur Geltung kommen, hat Wenders, wie schon in seiner Doku über Pina Bausch, 3D-Technik verwendet und obendrein mit der größtmöglichen Auflösung gedreht. Der Einsatz dieser Technik ist nicht unnötiges Klimbim, sondern schafft ein phantastisches Bilderlebnis, das einnehmender ist als jede immersive Ausstellung – allein schon, weil man sich im Kino voll und ganz aufs Bild konzentrieren muss.
Anselm Kiefer lässt seine Arbeiten sprechen
Die individuelle Interpretation der Werke wird durch Kiefers Wortkargheit zusätzlich forciert. Er erklärt nicht, sondern arbeitet. Mal fackelt er mit einem Flammenwerfer Stroh auf einem entstehenden Gemälde ab. Mal gießt er literweise flüssiges Blei auf eine Leinwand, mal radelt er pfeifend auf einem alten Fahrrad durch die riesigen Industriehallen seines Anwesens.
Es sind Momentaufnahmen, die den Gegenwartskünstler greifbarer machen. Über seinen Werdegang und Kontroversen aus der Vergangenheit erzählen sie jedoch nichts. Um diese Aspekte abzubilden, greift Wenders auf fiktionale Erzählstränge mit Schauspielern zurück. Sie visualisieren die prägende Kindheit im zerstörten Nachkriegsdeutschland, die Startschwierigkeiten als Künstler, die Konflikte mit der deutschen Kulturkritik. Auch hier wird wenig erläutert, sondern auf alte Tonaufnahmen oder Gedichte von Paul Celan zurückgegriffen, dem von Kiefer verehrten Lyriker.
Porträt des Künstlers als mythische Figur
Es ist ein eher essayistischer Angang, der zu den wenigen Schwachpunkten von "Anselm" zählt - etwas konkreter hätte es hier und da schon sein können. So aber wird der Künstler eins mit seinem Werk, das von Mythen und Pathos durchzogen ist. Ein Porträt in Vollendung, wenn man so will – wunderschön und ein wenig geheimnisvoll.
- Zum Podcast: "Lesungen - Anselm Kiefer literarisch"
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