Israel, Re'im: Überlebende und Angehörige der Opfer kehren auf das Gelände des elektronischen Musikfestivals Supernova, dem Ort des brutalen Terrorangriffs der Hamas vom 7. Oktober 2023, zurück. (zu dpa: «Nach Hamas-Terror - Israels Militärgeheimdienst-Direktor tritt zurück») Foto: Ilia Yefimovich/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Der 7. Oktober ist eine Zäsur. Jetzt erscheint ein Essayband über den Tag des Massakers und seine Folgen: "trotzdem sprechen"

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"trotzdem sprechen": Gedanken zum 7. Oktober

Der 7. Oktober 2023 ist eine Zäsur. Jetzt erscheint ein Essayband über den Tag des Massakers der Hamas und seine Folgen: "trotzdem sprechen" ist ein Zeitdokument. Das Buch lässt Israelis und Palästinenser zu Wort kommen.

Über dieses Thema berichtet: Die Welt am Morgen am .

Dieses Buch ist ein Wagnis. Es ist der Versuch, einander zu erzählen, einander teilhaben zu lassen an Gedanken und Gefühlen – und das in einer Zeit, die den leisen, nachdenklichen Stimmen allenfalls einen kleinen Raum lässt, wenn überhaupt. Ein Wagnis ist es auch, so viel Privates, Intimes preiszugeben, Ängste, Albträume, Verletzungen, Tränen angesichts der Nachrichten vom Massaker der Hamas, der Bilder aus Gaza, aber auch angesichts des Stimmenzuwachses der Rechten bei den letzten Landtagswahlen in Bayern und Hessen.

Perspektivenwechsel statt Ausgrenzung

Mirjam Zadoff, eine der drei Herausgeberinnen des Bandes "trotzdem sprechen" und Leiterin des NS-Dokumentationszentrums München, erzählt in ihrem Essay unter anderem vom eigenen Erleben des 7. Oktober. Die Historikerin war bei einer wissenschaftlichen Tagung. Im Gespräch mit dem BR sagt sie, sie habe viel Solidarität seitens der Teilnehmerinnen erfahren. "Ich finde jegliche Äußerungen, die Menschen ausschließen, Menschen niederbrüllen, Menschen ausladen, nicht als Teil eines 'Wir' wahrzunehmen, absolut falsch", sagt Zadoff. "Das kann nicht der Weg sein, sich zu solidarisieren. Wir müssen hier andere Wege finden."

Der Sammelband will einen solchen Weg eröffnen. Die Texte – entstanden in der Auseinandersetzung mit der Welt nach dem 7. Oktober – behandeln unterschiedliche Perspektiven. Und sie sind auch unterschiedlich gestaltet: Neben sehr persönlich gehaltenen Betrachtungen gibt es auch ein Gespräch, an dem unter anderem die Münchner Schriftstellerin Joana Osman teilgenommen hat, ihr Vater stammt aus Palästina. Joana Osman erzählt unter anderem, wie schwierig es gerade sei, Palästinenserin zu sein – weil man zwischen allen Stühlen stehe und der Konflikt traumatisierend sei. Auch diesen Gedanken wollen die Herausgeberinnen Raum geben.

Komplexitäten ins Auge sehen

"Diese Komplexitäten sollten wir in einem öffentlichen Gespräch auch aushalten", sagt Mijam Zadoff. "Die Tatsache, dass jemand palästinensischer Herkunft ist, sagt überhaupt nichts über die politische Positionierung von jemandem. Und das Gleiche betrifft Israelis, die sich häufig von der Politik der jetzigen Regierung distanzieren, auf die Straße gehen, egal ob in Israel oder Deutschland. Man hat das Gefühl, dass diese Komplexitäten im öffentlichen Gespräch verflacht werden, um sie unseren deutschen Gesprächsbedürfnissen anzupassen."

Die mit dem 7. Oktober verbundene Zäsur ist tief, das wird in den Texten immer wieder deutlich. Die deutsch-iranische Schauspielerin und Filmemacherin Maryam Zaree bemerkt gleich im ersten Essay, es fühle sich an, als entfremde man sich immer mehr. Viele in diesem Essayband sehen das genauso, die Autorinnen und Autoren, die "trotzdem sprechen" wollen, schreiben beständig dagegen an. Und sie erzählen von einer Zeit, in der eine in mehreren Bundesländern als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei viel Zuspruch erhält und in der Antisemitismus und Rassismus grassieren. In Mirjam Zadoffs Text heißt es, auf den Podien zum diesjährigen Internationalen Holocaust-Gedenktag höre man mehr über den Antisemitismus von Muslimen als über den der deutschen Mitte.

Alternativen in dunklen Zeiten

"Das ist ein Moment der Schuldabwehr", sagt Zadoff. "Mir scheint es fast als eine Erleichterung in bestimmten Kontexten, wo es tatsächlich um den Holocaust gehen sollte." Natürlich müsse man jetzt über die aktuelle Situation, den aktuellen Antisemitismus sprechen, das sei überhaupt keine Frage. Aber sie habe "immer wieder den Eindruck bekommen, dass man ganz froh ist, dass man nicht mehr über die eigene Geschichte sprechen muss," so Zadoff. "Ich finde, man kann beides machen, ohne die eigene Verantwortung aufzugeben."

Der Band "trotzdem sprechen" ist kein Debatten-Buch. Er ist ein Zeitdokument. Und vor allem: ein Plädoyer für die Menschlichkeit in einer Zeit des Hasses, der Polarisierung, des Getöses. Wir alle haben eine Verantwortung zur Humanität, schreibt die Publizistin Julia Alfandari, Beauftragte für Antisemitismus- und Extremismusprävention im Haus von Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Der Dichter Durs Grünbein erinnert an Immanuel Kants praktische Vernunft, an ein verantwortungsvolles Handeln, ebenso an Hannah Arendts Gedanken zu den Ursprüngen totalitärer Herrschaft. Sie und die anderen suchen nach Alternativen zu den Verhärtungen dieser Zeit. Sie suchen nach Ermutigung.

Der Band: "trotzdem sprechen", herausgegeben von Lena Gorelik, Miryam Schellbach und Mirjam Zadoff, erscheint am 25. April bei Ullstein.

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