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Alexej Nawalny vor Gericht

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"Von Kriminellen regiert": So rechnete Nawalny mit Putin ab

Wegen "Extremismus" soll Russlands bekanntester Oppositionspolitiker nach dem Plädoyer des Staatsanwalts zu einer weiteren langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt werden. Der prominente Angeklagte zeigte sich im Schlusswort völlig unerschrocken.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Derzeit sitzt Alexej Nawalny neun Jahre Lagerhaft unter verschärften Bedingungen wegen angeblicher Beleidigung eines Richters und "Veruntreuung von Staatsgeldern" ab. Es sieht so aus, als ob das Putin-Regime den Oppositionspolitiker darüber hinaus noch Jahrzehnte wegschließen will. Im zu Ende gegangenen Geheim-Prozess unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit wurde Nawalny "Extremismus" vorgeworfen, eine Umschreibung für seine offene Ablehnung der autoritären Kremlherrschaft. Am 4. August soll das Urteil verkündet werden. Der Staatsanwalt forderte 20 Jahre Haft. Jetzt sprach der Angeklagte sein spektakuläres Schlusswort, dass von Exil-Medien wie "Meduza" veröffentlicht wurde.

"Alle Russen wissen, dass jemand, der vor Gericht Gerechtigkeit sucht, völlig schutzlos ist. Der Fall einer solchen Person ist hoffnungslos. Wenn die Sache schlussendlich vor Gericht geht, dann erfreut sich diese Person garantiert nicht der Protektion eines Mächtigen. Denn in einem Land, das von einem Kriminellen regiert wird, werden strittige Fragen durch Verhandlungen, Macht, Bestechung, Betrug, Verrat und andere Mechanismen des wirklichen Lebens und nicht durch irgendeine Art von Gesetz gelöst", so Nawalny.

"Skrupelloses Übel Staatsmacht"

Nawalny erinnerte daran, dass bei der Rebellion von Söldnerführer Prigoschin Flugzeuge abgeschossen wurden und Piloten starben, was aber für die Täter bisher keinerlei rechtliche Konsequenzen hatte. Im Gegenteil: "Sie gingen nach Hause, um Geldkoffer unter sich aufzuteilen." Im Grunde seien Gerichte nur noch Plattformen, auf denen Angeklagte wie er eine Rede halten könnten. Allerdings habe das Regime den Geheim-Prozess "erfunden", der hinter geschlossenen Türen stattfinde, wie sein eigener, um das mediale Echo zu minimieren.

Nawalny hatte den Schneid, seine wenigen Zuhörer offen aufzufordern, mit ihm gegen Putin zu kämpfen: "Dennoch müssen Sie jede Gelegenheit nutzen, sich zu Wort zu melden, und da ich jetzt vor einem Publikum von achtzehn Menschen spreche, von denen sieben schwarze Masken über dem Kopf tragen, die ihr Gesicht verdecken, möchte ich nicht nur erklären, warum ich weiterhin gegen dieses skrupellose Übel kämpfe, das sich 'die Staatsmacht der Russischen Föderation' nennt, sondern Sie auch dazu auffordern, dies gemeinsam mit mir zu tun."

"Menschen sind verrückt geworden"

Sarkastisch bemerkte der inhaftierte Politiker, womöglich hätten sich einige der Anwesenden mit einer Maske unkenntlich gemacht, weil sie Angst hätten. Sein Gefängnisdirektor würde ihm ständig versichern, ihn nicht zu verstehen, so Nawalny: "Die Frage, wie man handeln soll, ist die zentrale Frage der Menschheit. Schließlich ist alles drumherum so kompliziert und so unverständlich. Die Menschen sind auf der Suche nach einer Formel, das Richtige zu tun, verrückt geworden. Suchen Sie nach etwas, auf das Sie sich verlassen können, wenn Sie eine Entscheidung treffen." Nawalny zitierte einen russischen Philologen, der empfahl, dem eigenen Gewissen und dem Verstand gleichermaßen zu vertrauen: "Das ist meiner Meinung nach eine sehr gescheite Idee. Eine Person muss sich auf beide Beine stützen."

"Wir werden reicher als die Könige"

Sich nur auf das Gewissen zu verlassen, sei zwar intuitiv richtig. Aber eine "abstrakte Moral, die die menschliche Natur und die reale Welt" nicht berücksichtige, sei dumm oder grausam, was bereits häufiger offenkundig geworden sei: "Das Vertrauen auf Geheimdienste ohne Gewissen ist heute das Herzstück des russischen Staates. Diese Idee erschien den Eliten zunächst logisch. Mit Öl, Gas und anderen Ressourcen werden wir einen skrupellosen, aber trickreichen, modernen, rationalen und rücksichtslosen Staat aufbauen. Wir werden reicher werden als die Könige früherer Jahre. Und wir haben so viel Öl, dass die Bevölkerung etwas davon abbekommt. Indem wir die Welt der Widersprüche und die Verletzlichkeit der Demokratie nutzen, werden wir zu Bossen und werden respektiert. Und wenn nicht, dann machen wir den anderen Angst."

"Besser in einem freien Land leben"

Ähnlich verhängnisvoll sei es, nur auf den Verstand zu setzen, denn der werde in Egoismus ausarten: "Da mein Russland sich nicht auf das eine Bein seines Gewissens verlassen wollte, machte es mehrere große Sprünge, schubste alle herum, rutschte dann aber aus und brach mit einem Brüllen zusammen, zerstörte alles um sich herum. Und jetzt zappelt es in einer Lache aus Schlamm oder Blut, mit gebrochenen Knochen, mit einer armen, ausgeraubten Bevölkerung, und Zehntausende derjenigen, die im dümmsten und sinnlosesten Krieg des 21. Jahrhunderts gestorben sind, liegen herum."

Nawalny beteuerte, er mache genau das, was er selbst für konsequent halte: "Ohne Drama." Er liebe sein Land. "Mein Verstand sagt mir, dass es besser ist, in einem freien und wohlhabenden Land zu leben als in einem korrupten und verarmten. Und während ich hier stehe und auf dieses Gericht schaue, sagt mir mein Gewissen, dass es in einem solchen Gericht weder für mich noch für irgendjemand anderen Gerechtigkeit geben wird. Ein Land ohne ein faires Verfahren wird niemals wohlhabend sein. Also – sagt jetzt wieder der Intellekt – wird es vernünftig und richtig von mir sein, für ein unabhängiges Gericht, faire Wahlen, gegen Korruption zu kämpfen, denn dann werde ich mein Ziel erreichen und in meinem freien, wohlhabenden Russland leben können."

"Jemanden unterstützen, der zehn Paläste hat?"

Möglicherweise denke der eine oder andere im Gerichtssaal, er sei "verrückt", so der Dissident: "Ich dagegen glaube, Sie sind verrückt. Sie haben nur ein Leben, das von Gott gegeben wurde, und wofür habt Ihr beschlossen, es einzusetzen? Sich Roben um die Schultern zu legen und diese schwarzen Masken überzustülpen und diejenigen zu beschützen, die auch Sie ausrauben? Um jemandem zu unterstützen, der zehn Paläste hat, einen elften zu bauen?"

Nawalny verglich die Geburt einer demokratischen Nation mit einer menschlichen Entbindung: "Ein neues, freies und reiches Land muss Eltern haben, damit es entstehen kann. Diejenigen, die es wollen. Die darauf warten und bereit sind, für die Geburt einige Opfer zu bringen. Die wissen, dass es die Opfer wert ist. Nicht jeder muss dafür ins Gefängnis gehen. Es ist eher wie eine Lotterie, und ich habe so ein Los gezogen. Aber jeder muss Opfer bringen und sich anstrengen."

"Schönem Russland Zukunft nahebringen"

Er schüre keinen Hass, beteuerte Nawalny mit Blick auf das Plädoyer der Staatsanwaltschaft: "Wenn Sie es satt haben, dieser Macht nachzugeben, Ihren Verstand und Ihre Zukunft aufs Spiel zu setzen, wenn Sie endlich verstehen, dass die Unterdrückung des Gewissens schließlich zum Verschwinden des Intellekts führen wird, dann werden Sie vielleicht eines Tages auf den beiden Beinen stehen, auf denen ein Mensch stehen sollte, und gemeinsam können wir das schöne Russland seiner Zukunft näher bringen."

Politologe Anatoli Nesmijan schrieb unterdessen in seinem Telegram-Kanal, Nawalny werde genau bis zu dem Tag einsitzen, an dem Russland eine "schwere Niederlage" erleiden werde: "Er hat keine anderen Möglichkeiten." Der Blogger Sergej Udalsow fragte sich: "Wer auch immer Nawalny davon überzeugte, 2021 nach Russland zurückzukehren, schickte ihn im Grunde zu lebenslanger Haft. Die Frage ist, wer es war – Leute aus einem engen Umkreis, ausländische 'Bürgen' oder Kreml-'Freunde'."

In Leserkommentaren russischer Blätter wurde ironisch gefragt, ob der Staatsanwalt womöglich den Namen "Putin" trage. "Ja, sie können ihm auch fünfzig Jahre geben. Er wird genau so lange hinter Gittern bleiben, wie dieses Regime andauert", meinte ein Kommentator. Es gab auch Russen, die ähnlich argumentierten wie Nawalny: "Das Gericht prüft einen Fall, in dem es nicht um Nawalny geht. In diesem Fall geht es um das russische Justizsystem. Das Urteil wird nicht gegen Nawalny fallen, sondern gegen das Justizsystem. Nach der 'verziehenen' militärischen Rebellion ist es generell unmöglich, die Schuld Nawalnys zu verstehen."

Wenn Nawalny eine "kleine Privatarmee" hätte, so ein Leser, wäre er vom Kreml sicherlich besser behandelt worden.

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