Packung Bakteriophagen vor EU-Parlament in Brüssel
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EU-Mitgliedsstaat Belgien hat für den Einsatz von Bakteriophagen einen einfachen und legalen Weg gefunden

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Antibiotikamangel: Wie kann Bayern gegensteuern?

Bakteriophagen können als letztes Mittel helfen, wenn Antibiotika knapp oder wirkungslos werden. Das sind Viren, die gezielt bestimmte Bakterien angreifen können. Ihr Einsatz ist aber nur schwer möglich. Bayern könnte den Einsatz erleichtern.

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Immer mehr Bakterien werden gegen verfügbare Antibiotika resistent. Zu allem Überfluss warnen die deutschen Gesundheitsbehörden, Ärzte und Apotheker vor einem drohenden Antibiotikamangel im kommenden Winter. Die Politik kann das Thema unmöglich ignorieren und sucht nach Alternativen.

So wirken Bakteriophagen als Alternative zu Antibiotika

Bakteriophagen: Diese Alternative zu Antibiotika könnte beim Kampf gegen multiresistente Keime wirksame Unterstützung bieten, manchmal könnten sie Antibiotika sogar ersetzen. Dies ist unter Medizinern unbestritten. Erst im Juli 2023 bestätigte dies grundsätzlich auch ein umfangreicher Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag, der den Abgeordneten mittlerweile vorliegt.

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Unfallchirurg Prof. Dr. Dr. Volker Alt, Uni-Klinik Regensburg, konnte 2023 mit Bakteriophagen einem ukrainischen Soldaten das Bein retten:

In Osteuropa, vor allem in der kleinen Kaukasus-Republik Georgien, sind Bakteriophagen seit 100 Jahren bekannt, erfolgreich und erheblich billiger als Antibiotika. Bakteriophagen (kurz: Phagen) sind Viren mit nur einem Ziel: die Kontrolle über Bakterien zu gewinnen. Man findet sie überall da, wo auch Bakterien sind, in Kloaken und Jauchegruben zum Beispiel. Sie nützen überall da, wo Bakterien schaden. Denn sie sind Bakterienfresser.

Im Video: So wirken Bakteriophagen

Bakteriophage dockt auf Bakterium an
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So wirken Bakteriophagen

Bürokratische Hürden bei der Herstellung von Bakteriophagen

Warum wird die Phagentherapie in der EU und in Deutschland nicht häufiger angewendet? Kritische Beobachter des Medizinbetriebes begründen dies vor allem mit einer zu komplexen Rechtslage und daraus resultierender Scheu von Kliniken und Ärzten bei der Anwendung.

Drei Beispiele: BR24 begleitet seit 2019 Patienten, die im Krankenhaus mit multiresistenten Keimen infiziert wurden. Bakteriophagen konnten teilweise helfen, doch die Beschaffung ist für Betroffene bis heute ein bürokratischer Hürdenlauf mit wechselnden Zuständigkeiten und abgelehnten Importerlaubnissen.

Anderes Beispiel: Das Münchner Klinikum Rechts der Isar wäre technisch in absehbarer Zeit in der Lage, mit einem Phagenlabor eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung in Bayern mit Bakteriophagen zu gewährleisten, sobald das Labor eingerichtet und entsprechend ausgestattet ist. Die Regierung von Oberbayern prüft den Vorgang seit Februar 2023 und hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) befasst, obwohl die Entscheidungskompetenz für klinikeigene Labore allein bei der Bezirksregierung liegt.

Drittes Beispiel: Die Herstellung in Fremdlaboren außerhalb der Klinik ist nach Arzneimittelgesetz stets erlaubnispflichtig (§ 13 I + IV AMG). Hier sind gleich mehrere Behörden befasst, nämlich die regionale Gesundheitsbehörde und die Bundesoberbehörde. Ob hier das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) oder das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) nach § 77 AMG zuständig sind, ist jedoch juristisch umstritten und damit eine weitere Hürde für den schnellen Einsatz von Phagen.

Bundesinstitut verweist auf Leitlinien der guten Herstellungspraxis

Das BfArM betont ausdrücklich, dass "auch in Deutschland (...) schon seit einigen Jahren Phagentherapeutika als Rezepturarzneimittel hergestellt und im Rahmen eines individuellen Heilversuches angewendet" werden. Jeder Arzt kann also unbestritten als letztes Mittel, und wenn Antibiotika nicht mehr helfen, Bakteriophagen anwenden - wenn er sie legal erhalten oder hergestellt hat. Denn gleichzeitig verweist das BfArM auf die "Grundsätze und Leitlinien der Guten Herstellungspraxis (GMP)", die auch bei dieser sogenannten "magistralen Herstellung" einzuhalten sind. Für Ärzte und Apotheker gelten "die jeweiligen Vorgaben der Arzneimittel- und Wirkstoffherstellungsverordnung sowie der Apothekenbetriebsordnung zum Qualitätsmanagementsystem".

Und genau in dieser Anwendungspraxis sehen Kritiker eine unüberwindliche Hürde für den umfassenden und massenwirksamen Einsatz von Bakteriophagen. Denn die Gesetzgebung orientiert sich an sogenannten "Fertigarzneimitteln". Der unwidersprochen sinnvolle Anspruch ist dabei, dass diese Medikamente unter gleichen, wohldefinierten Bedingungen hergestellt werden, um die Wirksamkeit für Millionen Menschen gleichermaßen zu gewährleisten.

Phagen sind aber nun genau keine Fertigarzneimittel, sondern individuell zubereitete Medikamente – vom Arzt verordnet, von einem Labor hergestellt, auf jeden einzelnen Patienten zugeschnitten.

Kritiker: Geltende EU-Regeln ungeeignet für Bakteriophagen

Darauf weist seit Jahren Barbara Brenner hin. Die Bonner Anwältin und Spezialistin für Medizinrecht ist auch examinierte Krankenschwester und hilft mit ihrem Netzwerk phagegermany Patienten, Ärzten, Kliniken und kommerziellen Laboren durch den Paragrafendschungel. Deutsche Labore, die Phagen herstellen möchten, erhalten von den zuständigen Behörden Auflagen, die dies laut Medizinrechtlerin Brenner unmöglich machen. Denn sie müssten umfangreiche Dokumentations- und Zertifizierungsauflagen erfüllen. Jeder einzelne Herstellungsschritt müsse von den Laboren doppelt gecheckt und zertifiziert werden – von der Isolierung über die Reinigung bis zur verwendeten Druckerpatrone. Das mache die Herstellung von Phagen de facto unbezahlbar.

Für ein deutsches Labor, das diese Phagenherstellung ausprobieren wollte, hätte das laut Brenner eine Kostensteigerung pro einzelner Phage von 50 auf 500.000 Euro bedeutet. "Und aus dem Ausland wird gemeldet: bis zu 1,2 Millionen Euro pro Präparat. Klar, dass sich so etwas nur 'Big Pharma' leisten kann. Für Kliniken ist das unbezahlbar", meint die Anwältin.

Ist das verhältnismäßig? Das BfArM verweist unter anderem auf Verunreinigungsrisiken bei der Phagenherstellung und seine aktive Begleitung bei der rechtskonformen Phagenanwendung in Forschung und Regulierung. Von den GMP-Leitlinien der guten Herstellungspraxis könne es aber nicht abweichen, sondern wirke bei der Formulierung harmonisierter Phagen-Standards im EU-Rahmen mit.

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Für Bürokratieabbau beim Bakteriophageneinsatz: Anwältin Barbara Brenner vor dem Bonner Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM

Warum die Phagenherstellung in Belgien einfacher geht

Genau darauf wollte der EU-Mitgliedsstaat Belgien nicht mehr warten und erleichtert bereits seit 2018 die Phagenherstellung und Anwendung unter einem Klinikdach erheblich. Denn Tatsache ist auch: Zwischenzeitlich sterben Hunderttausende von Menschen an Keimen, denen mit Phagen geholfen werden könnte. Allein in Deutschland starben laut Bundestagsbericht 2019 mehr als 45.000 Menschen im Zusammenhang mit antibiotikaresistenten Infektionen.

Belgien nutzt dazu eine Ausnahmeregelung in der entsprechenden Richtlinie 2001/83. Dort heißt es unmissverständlich: "Ein Mitgliedsstaat kann in besonderen Bedarfsfällen Arzneimittel von den Bestimmungen der vorliegenden Richtlinie ausnehmen."

Dazu hat das belgische Gesundheitsministerium angeordnet, dass die nationale Gesundheitsbehörde FAMHP mit Medizinern und Mikrobiologen einen stark vereinfachten Standard zur Herstellung und Überwachung entwickelt – ganz ohne gesetzliche Grundlage, sondern als Rahmenregelwerk für Ärzte, Kliniken, Herstellungs-Labore und Patienten. Das Queen-Astrid-Hospital in Brüssel ist dabei als federführendes Institut definiert worden, um die Qualität der Phagen zu untersuchen und zu zertifizieren. Auch die Sicherheitsfragen bei der Produktion wurden dabei rechtskonform gelöst. Diese so entstandene "belgische Monographe", ein Handbuch für Labore und Pharmazeuten, arbeitet nach Ansicht der Belgier zufriedenstellend, die Heilungsquote wird mit 77 Prozent angegeben.

Mit der belgischen Monographie existiert demnach ein Herstellungsstandard, der dem Stand der Wissenschaft entspricht. BR24 fragte das deutsche BfArM, warum in Deutschland nicht geht, was in Belgien offensichtlich erfolgreich ist. Als Antwort verweist die Behörde auf die bestehenden gesetzlichen Vorgaben. "Das BfArM kann daher basierend auf den bestehenden Regularien keinen Sonderweg wie Belgien beschreiten."

Gesundheitsminister in Bayern soll Phagentherapie ermöglichen

Damit liegt die Verantwortung bei der Gesundheitspolitik. So sieht es auch der Gesundheitsausschuss im bayerischen Landtag. Er hat den bayerischen Gesundheitsminister bereits im August 2023 aufgefordert, den Einsatz von Phagen im Freistaat durch entsprechende Behördenanweisungen zu ermöglichen. Dazu der Ausschussvorsitzende Bernhard Seidenath, CSU: "Wir müssen den gordischen Knoten durchschlagen, müssen einfach mal machen, müssen diese Therapie ermöglichen und den Menschen zugutekommen lassen. Unser Appell an die bayerischen Behörden: Bitte nehmt diesen Spielraum wahr, entscheidet selber, ihr könnt das entscheiden. Was in Belgien geht, muss in Bayern und Deutschland auch gehen."

Fazit: Auf Europarecht warten ist keine politische Option mehr

Sollte sich Bayern dazu entschließen, eine flächendeckende Aufnahme der Phagenproduktion im Inland unter dem gängigen wissenschaftlichen Standard zu genehmigen, ist das ein starkes Signal an die anderen Bundesländer und den Bund. Die belgische Praxis liegt als wissenschaftliche Blaupause vor. Ärzte, Kliniken, Fremdlabore, Apotheker und vor allem Patienten bekämen endlich Rechtssicherheit.

Bis in der EU irgendwann ein angemessen harmonisiertes Verfahren für Phagen gefunden worden ist, kann diese Übergangsregelung Menschenleben retten. Und übrigens auch viele Millionen Euro Krankenhauskosten sparen, meint Gesundheitsausschuss-Vorsitzender Bernhard Seidenath: "Ich verstehe persönlich nicht, warum nicht auch die Krankenkassen darauf drängen, dass wir das umsetzen können für kostengünstige Phagenpräparate."

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Landtags-Gesundheitsausschuss fordert im Notfall bayerischen Alleingang: Vorsitzender Bernhard Seidenath, CSU

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