Der doppelte Händedruck für die Kameras und zahlreichen Reporter im Akademiesaal des Bayerischen Landtags soll eine Botschaft transportieren. Nach der Flugblatt-Affäre waren sich Markus Söder und Hubert Aiwanger wochenlang in der Öffentlichkeit aus dem Weg gegangen, am Donnerstag schüttelt der Ministerpräsident seinem Vize vor und nach dem gemeinsamen Pressestatement demonstrativ die Hand und klopft ihm sogar kumpelhaft auf den Oberarm.
CSU und Freie Wähler geben sich bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags viel Mühe, einen Schlussstrich unter die Querelen der vergangenen Monate zu setzen sowie einen Geist des neuen Miteinanders zu verbreiten. Vor gut zwei Wochen noch hatte Söder Zweifel an Aiwangers Demokratieverständnis geäußert, nun verkündet der Ministerpräsident: "Wir haben neues Vertrauen zueinander gefasst." Und Aiwanger, der sich über Demütigungen durch die CSU beklagt hatte, lobt die "fairen Verhandlungen".
Wer hat sich durchgesetzt?
An diesem Donnerstag überwiegt bei den Freien Wählern erst einmal die Freude über die Einigung mit der CSU - die Stimmung in der FW-Fraktion ist dem Vernehmen nach gut. Ob das in den nächsten Wochen und Monaten auch so bleibt, wenn alle Zeit hatten, in Ruhe über die tatsächlichen Verhandlungsergebnisse nachzudenken, bleibt abzuwarten.
Kurz nach der Landtagswahl hatte CSU-Fraktionschef Klaus Holetschek in der "Augsburger Allgemeinen" mit Blick auf den Streit über Posten betont, dass seine Partei nach wie vor deutlich stärker sei als die FW: "Es muss klar sein, dass der Schwanz nicht mit dem Hund wedelt." Der Konter seines FW-Kollegen Florian Streibl folgte auf dem Fuß: "Jetzt müssen wir mal sehen, wer Schwanz und wer Hund ist." Eine Frage, die sich nach der Besiegelung der erneuten Koalition neben politischen Beobachtern auch Anhänger beider Parteien stellen dürften.
Kompromiss, bei dem beide ihr Gesicht wahren
Über die strittigsten Fragen - die Postenverteilung und die Ressortzuschnitte - hatten Söder, Aiwanger und die beiden Fraktionschefs noch am Mittwoch rund sechs Stunden intensiv gerungen. Auf den ersten Blick haben sie einen Kompromiss gefunden, mit dem beide ihr Gesicht wahren. Die Freien Wähler hatten vor den Koalitionsverhandlungen lautstark ein viertes Ministerium gefordert - und bekommen es nun. Söder entgegnete damals, rechnerisch seien die Freien Wähler mit ihren insgesamt fünf Kabinettsposten ausreichend berücksichtigt in der Staatsregierung - und es bleibt bei fünf, weil sie im Gegenzug für das zusätzliche Ministeramt einen Staatssekretärsposten an die CSU abgeben.
Aiwanger kann somit zwar stolz einen Verhandlungserfolg verkünden. An den Kräfteverhältnissen im neuen Kabinett ändert sich damit aber nichts: Zwölf CSUlern sitzen weiterhin fünf Freie Wähler gegenüber - obwohl doch die Freien Wähler durch große Zugewinne bei der Landtagswahl deutlich stärker geworden sind im Landtag.
Verlust des Digitalministeriums für Söder verkraftbar
Dazu kommt: Mit dem Digitalministerium gewinnen die Freien Wähler das kleinste Haus der Staatsregierung dazu - der Etat betrug bisher gerade einmal 0,16 Prozent des Staatshaushalts. Schon bislang hatte es keine allzu großen Kompetenzen, wurde zuweilen sogar belächelt, jetzt wird es sogar noch abgespeckt. Für die CSU dürfte der Verlust dieses erst vor fünf Jahren geschaffenen Ministeriums mit vergleichsweise geringen Schmerzen verbunden sein. Bei aller Freude der Freien Wähler über den vierten Ministerposten - es könnte schwer werden, das als großen Coup zu verkaufen.
Aiwanger hätte am liebsten das Landwirtschaftsministerium für seine Partei bekommen, die CSU ließ ihn aber abblitzen. Mehr noch: Das Agrarressort bleibt nicht nur in CSU-Hand, sondern bekommt noch zusätzliche Kompetenzen: Die Bereiche Tourismus und Gastronomie wandern von Aiwangers Wirtschaftsministerium zum Landwirtschaftsressort und damit von den Freien Wählern zur CSU.
Aiwanger setzt auf Jagd statt Wirtshaus
Diese Bereiche aufzugeben, dürfte Aiwanger nicht leicht gefallen sein. Regelmäßige Pressekonferenzen zur "Attraktivität der Tourismusregion Bayern", die umstrittene Schneekanonen-Förderung und der Kampf gegen die Bettensteuer: Aiwanger nutzte diese Themen bisher, um sichtbar zu sein und im Gespräch zu bleiben. Sein erster großer Aufschlag als neuer Wirtschaftsminister war 2018 ein "Wirtshausförderprogramm". Dafür wurde er einerseits als "Wirtshausminister" verspottet, von Gastronomen andererseits gelobt. Mit PR-trächtigen Terminen in Biergärten und Tourismusgebieten dürfte jetzt Schluss sein für den FW-Chef.
Stattdessen wird Aiwangers Wirtschaftsministerium die Zuständigkeiten für die Staatsforsten und die Jagd dazugewinnen. Perfekt für den passionierten Jäger und Waldbesitzer Aiwanger - und auch innerparteilich dürfte so mancher applaudieren: Die Jäger gelten unter den Konservativen in Bayern als einflussreiche Lobbygruppe. Ob Aiwanger damit aber auch nur annähernd so viel Sichtbarkeit erzielen kann wie mit Wirtshäusern und Schneekanonen, ist fraglich.
Der AfD-Abgeordnete Andreas Winhart kritisiert die "Zuständigkeitsschacherei" als "politischen Murks": "Dass Aiwanger persönlich gerne auf die Jagd geht, ehrt ihn." Die Staatsregierung solle künftig aber eher auf sinnvolle Zuschnitte achten, "als auf persönliche Hobbys von Ministern".
Große Herausforderung Kultusministerium
Und noch eine Zuständigkeit wandert von den Freien Wählern zur CSU: die Veterinärkontrolle in landwirtschaftlichen Betrieben. Das dürfte Thorsten Glauber, der als Umweltminister bislang dafür zuständig war, wenig schmerzen. Im Gegenteil: Sollte es erneut Skandale in Tierställen geben, stünde er nicht mehr in der ersten Reihe, wenn es um Schuldzuweisungen geht.
Ein großer Nachteil entsteht den Freien Wählern durch den Verlust des Staatssekretärspostens im Kultusministerium. Von Lehrermangel bis hin zur Digitalisierung: Im Bildungsbereich ist viel zu tun. Trotzdem muss Anna Stolz, bisher Staatssekretärin und künftig Ministerin, diese Herausforderungen nun alleine meistern. "Das ist natürlich schwierig, die Präsenz zu haben, die wir vorher hatten", räumt Stolz schon jetzt ein. Dass der bisherige Minister Michael Piazolo seinen Job verliert, verwundert so manchen in der FW-Fraktion. Schließlich stand Aiwanger bislang stets hinter seinem langjährigen Parteifreund, der zuvor auch schon sein Generalsekretär war.
Beide Seiten loben ihre Erfolge
Wer sich im neuen Koalitionsvertrag inhaltlich stärker durchgesetzt hat, liegt wie so oft zunächst im Auge des Betrachters. In ihren Pressestatements heben beide Parteien jeweils ihre Erfolge hervor. Besonders Aiwanger betont, die Freien Wähler hätten "viel Input hineingebracht", doch nun müssten die Beschlüsse gemeinsam vertreten und durchgefochten werden. Der Koalitionsvertrag enthält viele Absichtserklärungen - zum Teil wird erst deren tatsächliche Umsetzung irgendwann zeigen, wer sich wie durchgesetzt hat.
Anders als 2018 hatte Aiwanger zum Start der Koalitionsgespräche kaum über Ziele gesprochen, die er durchsetzen will. Forderungen wie eine Stärkung des Mittelstands oder der Abbau von Bürokratie waren ohnehin auch CSU-Positionen. Mit seinem Plan, ein definitives Nein zur dritten Startbahn am Münchner Flughafen durchzusetzen, ist er gescheitert. Im Koalitionsvertrag ist von "unterschiedlichen Auffassungen" dazu die Rede. Daher wird lediglich das Moratorium verlängert. Auch eine Absenkung des Wahlalters bei Kommunalwahlen auf 16 Jahre findet sich nicht im Vertrag.
Erreicht haben die Freien Wähler dagegen zum Beispiel, dass es ein bayerisches Gehörlosengeld geben und in "besonderen Ausnahmefällen" ein Führerschein ab 16 möglich werden soll. Gleich eine ganze Reihe der neuen Punkte im Koalitionsvertrag gehen aber auf Ankündigungen Söders aus den vergangenen Monaten zurück - von den verpflichtenden Sprachtests für Kita-Kinder bis hin zur staatlichen Windenergiegesellschaft "Bayern Wind". Sogar Söders Forderung an den Bund nach einer "Integrationsgrenze" für Migranten steht im Papier.
"Man weiß nie, was die Zukunft bringt"
Unabhängig davon, wie stark sich wer im neuen Koalitionsvertrag wiederfindet, wer wie viele Kröten schlucken musste - am Tag eins des neuen Bündnisses haben CSU und Freie Wähler jedenfalls rhetorisch deutlich abgerüstet: keine Spur von den Muskelspielen aus den ersten drei Tagen nach der Landtagswahl, keine wechselseitigen Angriffe, keine Hund-Schwanz-Metaphern. Inwieweit das Fundament der neuen Koalition wirklich so stabil ist, wie beide Seiten beteuern, bleibt allerdings abzuwarten.
Aiwanger erklärt den Streit mit Söder zwar für beendet - ob er der neuen Harmonie wirklich selber so richtig traut, lässt er aber offen, als er hinzufügt: "Man weiß nie, was die Zukunft bringt. Aber wir geben uns beide Mühe."
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