Elf Jahre sind eine lange Zeit. Fast so lange saß Stefan Klestil im Aufsichtsrat von Wirecard, zuletzt als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender. Elf Jahre, in denen er den früheren Chef Markus Braun "sicher auch persönlich besser kennengelernt" habe, wie der 56-Jährige am Mittwoch als Zeuge vor Gericht erzählt.
Klestil: Privates und Berufliches mit Braun immer getrennt
Beide sind Österreicher, beide wohnten zeitgleich in Wien. Braun habe ihn etwa zur Feier seines 50. Geburtstags eingeladen, schildert Klestil, zu der nur 30 bis 40 Gäste kamen. Auch den Wiener Opernball hätten sie mehrmals gemeinsam besucht. Eine Freundschaft sei es je nach Definition wohl nicht gewesen, aber über Hobbys und Bücher habe man sich ausgetauscht.
Wie passte das zu einem beruflichen Verhältnis, bei dem der eine (Aufsichtsrat) die Arbeit des anderen (Vorstandsvorsitzender) kontrollieren sollte? Privates und Berufliches habe er bei seinen persönlichen Kontakten mit Braun immer getrennt, betont Klestil: "An seinem Privathaus gab es zwei Klingeln – ich habe immer die Büroklingel benutzt." Nach Gesprächen über Wirecard sei er anschließend wieder nach Hause gegangen.
Klestil: "Braun konnte 20 bis 30 Prozent der Aktien beeinflussen"
Klestil bestätigt in seiner Aussage vieles, was andere Zeugen vor ihm bereits ähnlich berichtet hatten: dass Compliance, also die Regeltreue, bei Wirecard lange wohl eher ein Feigenblatt war, dass der Aufsichtsrat oft zeitkritisch entscheiden musste – und dass Braun großen Einfluss hatte.
Braun war nicht nur Vorstandschef, sondern zugleich größter Aktionär und habe das Vertrauen mehrerer institutioneller Investoren genossen – eine Einschätzung, die der frühere Aufsichtsratschef Thomas Eichelmann ebenfalls geteilt hatte. "Jeder wusste, dass Braun – je nach Phase – 20 bis 30 Prozent der Aktien direkt beeinflussen kann", sagt Klestil. Er habe aber trotz Brauns großem Einfluss immer offen und sachlich mit ihm diskutierten können.
- Zum Artikel: "Wirecard-Skandal: So tickt Markus Braun"
Wirecard-Aufsichtsrat hatte teils wenig Zeit für Entscheidungen
Bekannt klingt auch, wie Klestil die Arbeit des Aufsichtsrats beschreibt. Dokumente seien regelmäßig erst "sehr knapp" vor Entscheidungen vorgelegt worden. "Das gehört dazu, aber glücklich waren wir natürlich nicht", sagt Klestil. Auch hätten die Kontrolleure Unterlagen teilweise im Nachhinein anfordern müssen, weil sie ursprünglich fehlten. Zugleich zeigt er auch Verständnis dafür: "Wirecard war ein dynamisches Wachstumsunternehmen, das ist also nicht ganz ungewöhnlich."
Klestil wählt seine Worte mit Bedacht. Oft überlegt er erst einmal zehn oder 15 Sekunden, bevor er antwortet. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass er nicht nur Zeuge im Strafprozess ist, sondern zugleich Beklagter in einem anderen Verfahren: Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé verklagt ihn und drei ehemalige Vorstände zivilrechtlich auf Schadensersatz, wie eine Sprecherin des Landgerichts München bestätigt. Die Verhandlung dazu beginnt am 22. Februar.
- Zum Artikel: "Fortsetzung Wirecard-Prozess - auch 2024 kein Urteil?"
Vorwurf des Insolvenzverwalters: Bei Darlehen nicht genau geprüft
Jaffé wirft den ehemaligen Vorständen und Aufsichtsräten vor, die Sorgfaltspflichten "eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters" verletzt zu haben, indem sie in ihrer aktiven Zeit mehrere Darlehen bewilligten. Juristen sprechen in solchen Fällen von "Organhaftung".
Wirecard gewährte die Darlehen dem Partnerunternehmen "Ocap" aus Singapur. Der Insolvenzverwalter führt in seinem jüngsten Bericht insgesamt 200 Millionen Euro an, die an Ocap flossen – von denen jedoch nur 60 Millionen Euro zurückgezahlt worden seien.
Wirecard-Darlehen sind auch Teil der Anklage gegen Braun
Die Darlehen finden sich auch in einem der vier Anklagepunkte der Staatsanwaltschaft gegenüber Markus Braun wieder: Untreue. Demnach landeten 35 Millionen Euro davon auf einem Umweg über den flüchtigen Ex-Vorstand Jan Marsalek auf Brauns privaten Konten. Dieser betont, nicht gewusst zu haben, woher das Geld stammte. Er sei davon ausgegangen, Marsalek habe damit einen früheren Privatkredit ablösen wollen.
Ob auch Klestil selbst möglicherweise ein Strafprozess erwartet, lässt die Staatsanwaltschaft München offen. Sie äußert sich nicht zu der Frage, ob sie auch gegen ihn ermittelt. Eine Sprecherin teilt lediglich allgemein mit: "Es liegen Strafanzeigen gegen Mitglieder des Aufsichtsrates vor."
Klestil investiert heute weiter in Tech-Start-ups
Stefan Klestil ist der Sohn des verstorbenen früheren österreichischen Bundespräsidenten Thomas Klestil. Seit 2014 arbeitet er für den Risikokapital-Geber "Speedinvest", der in Technologie-Start-ups investiert. Seine elf Jahre als Wirecard-Aufsichtsrat erwähnt er auf seinem LinkedIn-Profil heute mit keinem Wort.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!