Bevor Richter Markus Födisch mit der Vernehmung von Zeugin Claudia B. beginnen kann, muss er am Morgen zunächst technische Hürden überwinden. Weil der Beamer im unterirdischen Gerichtssaal auf dem Gelände der JVA Stadelheim, mit dem Födisch und die Verteidiger-Teams immer wieder Dokumente an die Wand werfen, ausgefallen ist, muss er improvisieren. Er stellt einen Bildschirm auf die Richterbank und bittet im Laufe der nächsten Stunden die Zeugin immer wieder nach vorne, um sich Auszüge aus den Akten anzusehen.
Mehr als fünf Stunden geht das so. Dann ist Claudia B. entlassen. In dieser Zeit beantwortet die Juristin unzählige Fragen des Richters und die der Verteidigungs-Teams der Angeklagten Braun, Bellenhaus und von Erffa. Vor ihrem Wechsel zu Wirecard am 1. Juni 2020 war die Juristin B. bei einem bayerischen Automobilzulieferer tätig. Und sie lässt schnell durchblicken, wie ungewöhnlich ihr die Verhältnisse bei dem Aschheimer Zahlungsdienstleister vorgekommen sind.
Zum Beispiel, dass der Aufbau einer echten Compliance-Abteilung bei dem DAX-Konzern erst noch erfolgen musste und dafür Mitarbeiter akquiriert werden sollten. "In der Automobilbranche ist der Druck sehr hoch, ein Reputationsverlust wäre da der Super-GAU gewesen", zog B. Parallelen zu ihrem früheren Arbeitgeber.
Beraterverträge bei Wirecard "ohne Mehrwert"?
So habe sie zum Beispiel bei ihrem Eintritt in die Firma – zunächst in die Wirecard AG, dann in die zum Konzern gehörende Bank – keine regelmäßigen Berichts-Strukturen vorgefunden. Zudem sei es ihrer Meinung nach "durchgängig ungewöhnlich" gewesen, dass bei Verträgen mit Beratern nicht erkennbar gewesen sei, welcher "nachweisbare Zusammenhang mit dem Unternehmen" bestanden habe. Ebenso wenig sei ein Mehrwert erkennbar gewesen. "Da wurden pauschale Summen bezahlt, ohne das ein Grund für die Bezahlung genannt worden ist", schilderte sie ihren Eindruck.
Nach dem Zusammenbruch von Wirecard Ende Juni 2020 sei sie nach eigenen Angaben mit der Aufklärung beschäftigt gewesen. Dabei seien ihr zum Beispiel verdächtige Zahlungsflüsse aufgefallen. "Es war ein Puzzlespiel", so B. Geld, das in der Zeit vor dem Wirecard-Crash von Konten der Wirecard-Bank an Gesellschaften in Steueroasen geflossen sei, Antigua etwa. "Es ist aufgefallen, dass höhere, glatte Beträge über Konten der Wirecard Bank durchgereicht wurden", sagte sie wörtlich.
Zeugin berichtet von auffälligen Zahlungsflüssen
Beispielhaft nannte B. etwa den Wirecard-Drittpartner Centurion, von dessen Konto bei der Wirecard-Bank 2020 Gelder abgeflossen seien. Das deckt sich mit Recherchen des Bayerischen Rundfunks aus dem Herbst 2022. Internen Konzern-Unterlagen zufolge hat unter anderem Centurion 2018 mehr als 40 Millionen Euro an Briefkastenfirmen auf der Karibikinsel Antigua und nach Indonesien weitergeleitet. Ihre Namen: CC Consultancy Management Service, DR Technologies und Call Centre Services. Zu diesen Firmen konnte die Zeugin auch auf mehrfache Nachfrage keine Angaben machen. "Die sagen mir nichts", betonte sie.
Die genaue Rolle der Wirecard-Drittpartner dominiert den Prozess nach wie vor: Hat es das Wirecard-Auslandsgeschäft mit diesen Partnerfirmen gegeben? Staatsanwaltschaft und Insolvenzverwalter sagen seit Prozessbeginn: Nein, dieses Geschäft war frei erfunden, um den Konzern in der Öffentlichkeit als höchst profitabel darstellen zu können. Die Verteidigung von Markus Braun betont im Gegensatz dazu, dass Wirecard zustehende Einnahmen aus realem Business veruntreut worden sind - von einer Bande rund um den früheren Wirecard-Vorstand Jan Marsalek und den Ex-Statthalter von Wirecard in Dubai, Oliver Bellenhaus. Bellenhaus und Ex-CEO Markus Braun sitzen nach wie vor in Untersuchungshaft.
Marsalek-Brief - weiteres Vorgehen weiter unklar
Weiter unklar ist, wie die Kammer mit dem Schreiben des früheren Wirecard-Vorstands Jan Marsalek umgehen wird, das dieser im Sommer vergangenen Jahres über seinen Anwalt an das Gericht geschickt hat. Marsalek hat sich inzwischen nach Angaben seines Anwalts damit einverstanden erklärt, dass das achtseitige Schreiben in öffentlicher Verhandlung verlesen wird. Nach Einschätzung von Richter Markus Födisch ist das aber rechtlich sehr kompliziert. Die Hauptverhandlung geht morgen weiter, geplant ist die Vernehmung weiterer Zeugen.
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