Die Gemeinde Kirchanschöring im Chiemgau mit etwa 3.400 Einwohnern nimmt eine Vorreiterrolle in Deutschland ein: Es ist der erste Ort, der eine so genannte Gemeinwohlbilanz erstellt hat.
Wie lässt sich Gemeinwohl messen?
Bürgermeister Hans-Jörg Birner (CSU) ist seit 13 Jahren im Amt. Für die neue Bilanz holt er sich Schützenhilfe von dem österreichischen Autoren und Aktivisten Christian Felber. Dieser hat vor zehn Jahren das Modell der Gemeinwohlökonomie populär gemacht. Sein Ziel: Bei jeder Entscheidung soll das Gemeinwohl an erster Stelle stehen. "Wir wollen die Umsetzung des Artikels 151 der Bayerischen Verfassung erreichen", so Felber. "Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl. Und das kann nur erreicht werden, wenn wirtschaftliche Tätigkeiten auch daraufhin gemessen werden, wie sehr und wie konkret sie dem Gemeinwohl dienen."
Rathaus wird unter die Lupe genommen
Für die Gemeinwohl-Bilanz werden Gemeinde und Rathaus genau untersucht. Wichtig sind dabei Kriterien wie: Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit. Dafür gibt es dann unterschiedlich viele Punkte – je mehr, desto besser.
Das reicht bis ins kleinste Detail, wie Gemeindemitarbeiterin Sophia Reitschuh erklärt. So stammt etwa der kostenlose Kaffee in der Gemeinschaftsküche aus Fairtrade-Bohnen vom eine Welt-Laden. Die Gebäude werden mit Fernwärme aus der gemeindeeigenen Hackschnitzelanlage versorgt. Die Energieerzeugung ist in kommunaler Hand – und damit autark. Selbst beim Putzmittel geht es um die Umweltverträglichkeit. Für ihr nachhaltiges Beschaffungswesen erhält die Gemeinde 36 Punkte für ihre Gemeinwohlbilanz.
Bewertet wird auch fairer Verdienst der Mitarbeitenden
Kirchanschöring zahlt Tariflohn, Frauen und Männer bekommen gleich viel, Zeitarbeit wird abgelehnt. Und der Einkommensunterschied zwischen Chef und Angestellten ist gering. Das Resultat dieser gerechten Art der Verteilung: 48 Punkte.
"Wir legen unsere Rücklagen grundsätzlich bei ethischen Banken an, ethischen Geldanlagen, das ist sehr gut angekommen bei den Mitbürgerinnen und Mitbürgern", sagt Bürgermeister Birner. "So gut, dass mich der Pfarrer eingeladen hat, über das Thema in der Sonntagspredigt zu sprechen." Das ethische Finanzmanagement bringt weitere 24 Punkte.
Pluspunkte für soziale Fürsorge
Damit die Dorfmitte lebendig bleibt, wurde dort ein Haus der Begegnung mit Sozialbüro, Arztpraxis und Wohnungen für Seniorinnen und Senioren gebaut. Neun bezahlbare barrierefreie Wohnungen gibt es dort, dazu eine Altenwohngemeinschaft für bis zu zehn Personen und 24-Stunden-Pflegedienst. Und: Die Senioren, die hier einziehen, machen im Ort Häuser für junge Familien frei. Dieses Generationen-Konzept wird mit 72 Punkten belohnt.
Ziel: Transparenz bei Entscheidungen
Wenn es etwa um den Umbau der Grundschule zu einem kindgerechten Campus geht, sitzt ein Bürgerrat mit im Boot. Nach der Sanierung soll es auch eine Ganztagsbetreuung geben. Um nicht an den Bedürfnissen der Kleinen vorbei zu planen, hat der Bürgermeister einen Kinderrat einberufen, der mitbestimmt und Wünsche äußert.
Unter dem Strich hat Kirchanschöring für sein nachhaltiges und soziales Engagement in der Gemeinwohlbilanz 588 von 1.000 möglichen Punkten erreicht. Würde die Gemeinde unsozial handeln, drohten sogar Minuspunkte.
Auch Firmen lassen sich zertifizieren
Das Prinzip der Gemeinwohlbilanz ist auch auf Bildungseinrichtungen und Unternehmen übertragbar. Bereits 800 Firmen in Deutschland lassen sich sozial und nachhaltig bilanzieren und zertifizieren. In Kirchanschöring hat das konsequente Setzen auf das Gemeinwohl viel bewirkt. Und der Funke springt über. Viele Orte fragen Bürgermeister Birner für Vorträge an, weil auch sie sozial und nachhaltig sein wollen – zum Wohle aller.
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