Tino Schnell will hoch hinaus. Trotz seiner Mukoviszidose, einer Stoffwechselerkrankung und einer Störung im autistischen Spektrum, klettert der 16-Jährige aus dem Chiemgau seit seiner Kindheit. Er mag das Klettern, liebt die Höhe. Deswegen macht Tino nun eine Ausbildung zum hauptberuflichen Klettertrainer - in der ersten inklusiven Kletterhalle in ganz Deutschland. Gegründet hat sie Ergotherapeutin Natascha Haug, zusammen mit ihrem Mann. Im "Basislager" klettern Menschen mit und ohne Behinderung ganz selbstverständlich zusammen.
"Klettern ist ein Sport, wo ich die Inklusion sehr gut darstellen kann, ohne dass sich jemand langweilt", sagt Haug. Wenn jeder seinen Teil dazu beitragen könne und alle richtig gefordert seien auf ihrem jeweiligen Leistungslevel, dann funktioniere es. "Dann ist Inklusion nicht: 'Ok, ich muss auf den Behinderten aufpassen und mich hinten anstellen', sondern dann kommt jeder zu seinem Spaß, und dann ist es ein echtes Miteinander", erläutert Haug.
Erster Arbeitsmarkt statt Werkstatt für Menschen mit Behinderung
Auch an der Kasse wird Tino gerade angelernt. Statt in einer Werkstatt für Behinderte, in der er nur 200 Euro Taschengeld im Monat verdienen würde, hat er im Basislager eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt. Das heißt: Er verdient mehr als nur den gesetzlichen Mindestlohn. Doch nicht immer läuft es für Menschen mit einem Handicap so gut.
Bundesregierung will Druck auf Unternehmen erhöhen
Schwerbehinderte haben es auf dem ersten Arbeitsmarkt viel schwerer als Nichtbehinderte. Deswegen plant die Bundesregierung jetzt, die sogenannte Ausgleichsabgabe zu erhöhen. Das heißt, Unternehmen, die per Gesetz eigentlich Menschen mit schweren Handicaps anstellen müssten, sollen in Zukunft zum Teil doppelt so viel als Ausgleich zahlen. Mit dem Geld fördert der Staat dann wiederum Arbeitgeber, die ihre Pflicht erfüllen und so das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung, die Inklusion, fördern.
Inklusion in der Arbeitswelt, das bedeutet: Menschen mit Behinderung haben dieselben Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt wie andere Jobsuchende. Ob in Betrieben, Verwaltungen oder Organisationen: Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten selbstverständlich miteinander. Doch in der Realität sieht es häufig anders aus.
So wie etwa bei Michael Piechnik. Der vierfache Vater ist Arzt, schob regelmäßig Extraschichten im Rettungsdienst. Bis der Burnout zuschlug und er sich auch noch das Sprunggelenk brach. Seit fünf Jahren ist er schwerbehindert und arbeitslos. Dabei werden Ärzte gesucht. "Ich selber bin 64 Jahre. Dann fragen sich viele Arbeitgeber: 'Soll man den noch mit seiner Behinderung für ein- oder zweieineinhalb Jahre einstellen?'", sagt Piechnik. "Es heißt ja immer so schön: Bei gleicher Qualifikation ist ein Behinderter vorzuziehen. Sie finden immer einen Grund, warum jetzt jemand anders die Stelle bekommen hat."
Höhere Ausgleichsabgabe für Unternehmen geplant
Menschen mit einem Handicap haben es doppelt so schwer, einen Job zu finden wie Nichtbehinderte. Das soll sich jetzt ändern – so der Plan der Bundesregierung. Bislang müssen Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern laut Gesetz fünf Prozent Menschen mit Schwerbehinderung anstellen. Ansonsten müssen sie eine Ausgleichsabgabe von derzeit bis zu 360 Euro pro Monat bezahlen. Das soll sich ab dem nächsten Jahr verdoppeln auf 720 Euro pro Monat. Dafür könnte das zusätzliche Bußgeld von maximal 10.000 Euro für Unternehmen, die ihre Pflicht nicht erfüllen, in Zukunft wegfallen.
In der Arbeitsagentur Rosenheim ist Astrid Schneider für die Vermittlung von Michael Piechnik zuständig. Bei Arbeitgebern sei immer noch eine Unsicherheit zu spüren, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen, berichtet Schneider. Dennoch: Ihrer Meinung nach würde mehr Druck auf die Unternehmen wenig bringen. "Vielmehr müssen wir die Arbeitgeber überzeugen, dass sie sich die Ausgleichsabgabe sparen können, wenn sie Menschen mit Behinderung einstellen und der Behinderte auch produktiv für den Arbeitgeber ist."
Jeder vierte Arbeitgeber ohne Mitarbeiter mit Behinderung
Doch noch immer gibt es Vorurteile: Menschen mit Behinderung seien öfter krank und schlechter kündbar, so die Meinung vieler. Statistiken widerlegen das. Und dennoch: Von den 29.000 Unternehmen in Bayern, die mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderung vergeben müssten, tun dies nur 40 Prozent. 27 Prozent - also mehr als ein Viertel - haben keinen einzigen Menschen mit Behinderung angestellt.
- Zum Artikel: Arbeitsmarkt: Behindertenbeauftragter fordert mehr Inklusion
Personalchef: "Haben sehr gute Erfahrungen gemacht"
Es gibt aber auch positive Beispiele. Felix Hahn arbeitet bei "Schattdecor" in Rohrdorf im Chiemgau. Das Unternehmen hat 3.000 Mitarbeiter und ist Weltmarktführer in der Produktion von Oberflächen für die Holz- und Möbelindustrie. Der 27-Jährige ist seit seiner Geburt querschnittsgelähmt. Er hat in dem Unternehmen seine Ausbildung zum Industriekaufmann gemacht und ist heute in der Marketingabteilung beschäftigt. "Ich hab wahnsinniges Glück gehabt. Bei Schattdecor ist es ganz normal, man lebt damit, so wie ich mit meiner Behinderung lebe", erzählt Felix Hahn. Die Firma stelle die Mitarbeiter nach Leistung ein - und nicht nach körperlichen Kriterien.
Als Felix Hahn in das Unternehmen kam, war es bereits zu 98 Prozent barrierefrei. Zusätzlich wurde für ihn noch ein Aufzug eingebaut, damit er in alle Stockwerke kommt. Personalchef Korbinian Heiß hat festgestellt: Das Betriebsklima im Team hat sich durch solche inklusiven Maßnahmen weiter verbessert. "Es ist gar nicht so schwierig, wie man sich das vorstellt", sagt Heiß. "Manche Unternehmen haben auch Respekt davor, es umzusetzen. Aber wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht und können nur motivieren, dass man es auch in anderen Firmen umsetzt."
Auch die Inklusionsämter und Fachdienste in Bayern unterstützen mit Beratung und finanziellen Zuschüssen. Finanziert wird das durch die Ausgleichsabgabe.
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