Russlands Präsident Wladimir Putin spricht zurzeit öffentlich von einem russischen Wirtschaftswunder und Niedrigarbeitslosigkeit. Es soll den Eindruck vermitteln, dass die westlichen Sanktionen wirkungslos geblieben sind und Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine wirtschaftlich weiterhin stemmen kann.
Im BR24-Interview erklärt Michael Rochlitz, Professor für die Volkswirtschaften Russlands, Osteuropas und Eurasiens am St Anthony's College an der Universität Oxford, welche Auswirkung die westlichen Sanktionen tatsächlich auf die russische Wirtschaft haben und wie sich die aktuelle Kriegswirtschaft auf Russland und den Ukraine-Krieg auswirken wird.
BR24: Herr Rochlitz, es werden nach wie vor westliche Bauteile in russischen Waffensystemen in der Ukraine gefunden. Sind die westlichen Sanktionen wirkungslos geblieben?
Rochlitz: Nicht unbedingt. Durch die Sanktionen ist es für Russland viel schwieriger geworden, auf dem Weltmarkt Hochtechnologiegüter einzukaufen. Man versucht diese Hochtechnologiegüter auf Umwegen zu bekommen, über die Türkei, über Zentralasien, über Drittländer. Das ist auch manchmal möglich, aber es ist eben viel komplizierter und dadurch viel teurer. Man kann nur noch kleinere Mengen einkaufen und die Preise sind viel höher. Und das ist im Prinzip der Sinn der Sanktionen. Es ist schwierig, völlig den Import von Hochtechnologiegütern zu unterbinden. Aber die Sanktionen schaffen es, den Import viel schwieriger und viel teurer zu machen. Und das macht es eben der russischen Verteidigungsindustrie schwerer, technologisch sehr fortschrittliche Waffen herzustellen.
Im Video: Sanktionen gegen Russland wirkungslos? Possoch klärt!
BR24: Was bedeutet es für die russische Wirtschaft, wenn westliche Technologie nicht mehr in der Menge, wie noch vor dem Krieg, nach Russland kommt?
Rochlitz: Die ganze Volkswirtschaft, alle Investitionen, die in Russland in den letzten 15 Jahren getätigt wurden, beruhen zu einem großen Teil auf westlicher Technologie. Und die brauchen Bauteile und Ersatzteile, um gewartet zu werden. Und es kann durchaus ein paar Jahre noch so weiterlaufen. Aber es wird zunehmend schwieriger und die Prozesse veralten. Und man kann dann nicht mehr mit anderen Ländern, die mit neuester Technologie arbeiten, mithalten.
Wird der Westen von Russland ausgetrickst?
BR24: Der Handel Deutschlands mit Russlands Nachbarländern wie Kirgistan ist seit Beginn des Ukraine-Kriegs deutlich gewachsen. Über diese Drittländer scheint wiederum nach wie vor westliche Technologie nach Russland zu kommen. Wird der Westen da ausgetrickst?
Rochlitz: Ich denke, dass das Problem, dass diese Sanktionen umgangen werden, manchmal ein bisschen aufgebauscht wird. Der Handel Deutschlands mit Kirgistan war vor 20/21 jetzt nicht so überragend groß. Ja, der Handel ist jetzt um 180 Prozent angestiegen. In absoluten Zahlen ist das natürlich immer noch viel weniger als den Handel, den wir zum Beispiel vorher hatten mit Russland. Das Gleiche ist mit Kasachstan der Fall und mit den anderen zentralasiatischen Staaten. Da ist der Handel zwar angestiegen und es kommt da auch zum Umgehen der Sanktionen. Aber trotzdem, die Mengen, die dann wirklich in Russland ankommen, sind viel geringer als die Mengen, die man vorher dort auf dem freien Markt einfach einkaufen konnte.
Folgen der westlichen Sanktionen falsch eingeschätzt
BR24: Wurde dennoch der mögliche Erfolg der westlichen Sanktionen falsch eingeschätzt?
Michael Rochlitz: Man hat vor fast zwei Jahren angenommen, dass die Sanktionen die russische Volkswirtschaft viel härter treffen würden, als das der Fall war. Im Februar 2022 ist man davon ausgegangen, dass es einen Rückgang von 10 bis 15 Prozent der russischen Wirtschaftsleistung im Jahr 2022 geben wird. Das waren zum Schluss dann nur fünf Prozent.
BR24: Woran lag das?
Rochlitz: Zum einen hat die russische Zentralbank sehr kompetent reagiert, hat sehr schnell den Leitzins angehoben, auf 20 Prozent, hat für Kapital Exportkontrollen eingeführt, hat also im Prinzip die russische Wirtschaft in ein künstliches Koma versetzt. Dann muss man auch sagen, dass die russische Wirtschaft sehr viel krisenfester ist, als man das vor zwei Jahren angenommen hat, weil eben Russland in den letzten 10 bis 15 Jahren durch eine ganze Reihe von Krisen gegangen ist. Da hatten wir die Finanzkrise 2008/2009. Wir hatten die ersten Sanktionen 2014 nach der Krim-Annexion. Wir hatten natürlich die Corona-Krise. Und diese ganzen Krisen konnte Russland immer wieder abfedern. Man könnte also sagen, dass die russische Wirtschaft die Möglichkeit, schneller zu wachsen, in den letzten zehn Jahren geopfert hat, um krisenfester zu sein.
BR24: Außerdem hat Russland nach wie vor wertvolle Rohstoffe?
Rochlitz: Genau, das ist der dritte große Grund. Russland hat das ganze Jahr 2022 immer noch Öl und Gas in großem Maße exportiert, weil die westlichen Staaten sich erst umstellen mussten. Und dann ist viel mehr Geld als im Jahr 2021 zu Beispiel in die russische Staatskasse geflossen.
Russlands Wirtschaftswachstum "nicht produktiv"
BR24: Dazu kommt noch, dass die russische Wirtschaft im Jahr 2023 nach Angaben Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) sogar um 3,5 Prozent gewachsen ist. Wie ist das möglich?
Rochlitz: Dazu muss man wissen: Wir hatten gerade im Januar, Februar und März 2023 massive Investitionen des russischen Staates in die Verteidigungsindustrie. Wir haben also ein Umschichten von Sektoren. Wirtschaftssektoren wie zum Beispiel die pharmazeutische Industrie oder auch der Automobilindustrie für private Pkws sind eingebrochen. Wir haben also eine strukturelle Verschiebung des russischen Wirtschaftsmodells.
BR24: Ein kluger wirtschaftlicher Schachzug von Wladimir Putin?
Rochlitz: Das ist natürlich Wachstum, das nicht produktiv ist. Ökonomen beschreiben das manchmal so: Wenn sie zum Beispiel Leute einstellen, die massiv in Städten Fenster kaputt schmeißen, dann diese Fenster wieder reparieren und dafür bezahlt wird, dann schafft das Wirtschaftswachstum. Weil jeder Wert, der geschaffen wird, der zählt erst einmal positiv zum Bruttoinlandsprodukt dazu. Genauso ist es mit dem Krieg: Wir schaffen Waffen, die dann in die Ukraine gefahren werden und dort zerstört werden. Das ist dieses unproduktive Wirtschaftswachstum, das wir in Russland haben. Das ist nicht etwas, was zum Beispiel nachhaltig den Lebensstandard der russischen Bevölkerung anhebt.
Russlands Wirtschaft auf den Spuren der Sowjetunion?
BR24: Also wird gerade in Russland sehr viel für den Krieg geopfert?
Rochlitz: In der Tat. Was zurzeit in Russland passiert, ist, dass die langfristige, wirtschaftliche Entwicklung des Landes dafür geopfert wird, um kurzfristig diesen Krieg weiterführen zu können. Russland kann durchaus den Krieg noch ein, zwei, drei Jahre auch in dieser Art und Weise, wie er jetzt geführt wird, weiterführen und auch wirtschaftlich diese Sache durchhalten.
Aber was jetzt hier passiert: Zum einen haben wir den Aufbau einer großen Verteidigungswirtschaft und -industrie, wie das zur Zeit der Sowjetunion auch war. Und wir haben viele Lobbygruppen, die jetzt gerade wieder entstehen, die gestärkt werden, die finanzielle Zuwendung bekommen. Und wenn der Krieg dann irgendwann einmal zu Ende ist, dann wollen die das natürlich gar nicht mehr abgeben. Und wir haben diese ganzen Lobbygruppen, die Reformprozesse blockieren. Da ist dann genau das Problem, an dem die Sowjetunion schlussendlich gescheitert ist. Wir hatten ein Land, das sich wirtschaftlich seinen Verteidigungsapparat nicht mehr leisten konnte. Und dahin steuert Russland jetzt wieder.
"Kriegswirtschaft schadet russischer Volkswirtschaft langfristig sehr stark"
BR24: Was genau bleibt denn in Russland zugunsten der Kriegswirtschaft auf der Strecke?
Rochlitz: Wir haben Kürzungen im Gesundheitsbereich, in der Bildung, gerade im Universitätswesen, in der Forschung, ganze Zweige brechen da zusammen. Zukunftsindustrien in der IT-Industrie im KI-Bereich. Das ist eigentlich das, was Russland bräuchte, um nach Öl und Gas weiter in der Weltwirtschaft wettbewerbsfähig zu sein. Und diese Zukunftssektoren, die werden zurzeit durch den Krieg zerstört. Zum einen, weil die nicht gerade finanziell gefördert werden. Zum anderen haben auch viele hochqualifizierte Arbeitskräfte das Land verlassen. 2022 haben gerade am Anfang und dann noch einmal bei der Mobilisierung im September ungefähr 500.000 Menschen Russland verlassen und viele von denen waren eben hochqualifiziert, gerade im IT-Bereich. Das schadet der russischen Volkswirtschaft langfristig sehr stark.
"Russland produziert die Ukraine gegen die Wand"
BR24: Gleichzeitig hilft diese Art der Kriegswirtschaft Russland weiter, in der Ukraine Krieg zu führen?
Rochlitz: Russland gibt mittlerweile 40 Prozent seines Haushalts für den Krieg aus. Das sind sechs Prozent der gesamten russischen Wirtschaftsleistung. Und wenn man sich den gesamten Sicherheitssektor in Russland anschaut, also auch die Polizei und die Geheimdienste, gehen mittlerweile acht Prozent der russischen Wirtschaftsleistung in den Bereich Verteidigung und Sicherheit. Das ist eine Menge Geld. Und das erlaubt es eben Russland, diesen Krieg in der Ukraine auch weiter fortzuführen. Zurzeit sehen wir, dass Russland die Ukraine so ein bisschen gegen die Wand produziert. Also die Ukraine kommt da nicht mehr hinterher, und die Lieferungen, die in die Ukraine aus dem Westen kommen, sind da nicht ausreichend.
BR24: Sie sehen also Russland in der Ukraine im Vorteil?
Rochlitz: Was wir mittlerweile haben, ist ein Abnutzungskrieg, also ein wirtschaftlicher Abnutzungskrieg. Im Prinzip hätte der Westen die besten Möglichkeiten, um so einen Krieg auch zu führen, weil der Westen wirtschaftlich viel stärker als Russland ist. Aber Russland hat eben diese Entscheidung getroffen und der Westen nicht.
Probleme für Russlands Wirtschaft bei Kriegsende?
BR24: Sollte Russland die aktuell völkerrechtswidrig besetzten Gebiete in der Ukraine langfristig integrieren können, würde das dann auch der russischen Wirtschaft helfen?
Rochlitz: Die Regionen, die Russland in der Ukraine bis jetzt für sich beansprucht hat, auch die Krim, helfen der russischen Wirtschaft nicht. Im Gegenteil. Die Krim ist massiv subventioniert. Jedes Jahr fließt aus dem russischen Haushalt viel Geld in die Krim, um die Krim wirtschaftlich erstmal auf das Niveau von Russland zu heben und dann weiter auch zu subventionieren. Das Gleiche gilt auch für die anderen Regionen der Ukraine, die Russland jetzt annektiert hat. Dort wurde viel Infrastruktur zerstört, die jetzt wieder aufgebaut werden muss. Und das hilft Russland wirtschaftlich nicht. Im Gegenteil, das kostet Russland sehr viel Geld.
BR24: Was kommt auf die russische Wirtschaft zu, sollte der Krieg eines Tages enden?
Rochlitz: Wenn Sie so massiv eine Kriegswirtschaft aufgebaut haben, haben Sie ein großes Problem, sobald der Krieg vorbei ist. Es ist, wie wenn Sie drogenabhängig sind und plötzlich bekommen Sie diese Droge nicht mehr. Sie wachen am nächsten Morgen auf und haben dann einen ganz schlimmen Kater, weil all diese Interessengruppen, die ganzen Soldaten, aber auch die Menschen, die in der Verteidigungsindustrie gearbeitet haben, die hohe Gehälter bekommen haben - das Geld fließt plötzlich nicht mehr. Und was passiert dann? Das ist dann ein massives Problem. Und mein Eindruck ist, dass die russische Wirtschaftspolitik, die wir zurzeit sehen, sehr, sehr kurzfristig gedacht ist, praktisch für die nächsten sechs bis neun Monate. Aber was danach kommt, darüber macht sich zurzeit niemand Gedanken.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!