Immer weniger Menschen für immer mehr Arbeit: In sehr vielen Branchen gibt es zu wenig Fachkräfte. Das Problem ist längst bekannt und nimmt weiter zu. Doch wie lässt es sich lösen?
Soziale Einrichtungen: Lücken im Dienstplan
Helfen im Alltag: Heilerziehungspfleger Janik Schikowski ist immer da, wo er gebraucht wird. Sechs Menschen mit Behinderung leben in der Wohngruppe der Diakonie Herzogsägmühle im Landkreis Weilheim-Schongau. Unter ihnen auch Gabi Fichtl. Die 60-Jährige kann nicht mehr allein wohnen. Sie ist gehbehindert.
Doch diese wichtige Unterstützung - das Leben in einer Wohngruppe - anzubieten, wird immer schwieriger, wie der Dienstplan der Einrichtung zeigt. Lücken lassen sich kaum mehr vermeiden. Eigentlich gäbe es noch freie Wohnplätze. Aber die bleiben frei, weil das Personal dafür fehlt.
Fachkräftemangel in verschiedenen Branchen
Martin Edelmann, Teilbereichsleitung 'Wohnen im Umfeld' der Diakonie Herzogsägmühle sagt: "Wir hören die Not, wir kriegen die Anrufe von Angehörigen, von gesetzlichen Vertretern, die dringendst einen Wohnplatz brauchen. Ist sehr schwierig. Wir müssen sie oft vertrösten, oft über ein, zwei Jahre, weil wir keine adäquaten Wohnplätze bieten können."
In Deutschland fehlen überall Fachkräfte, vor allem in der Sozialarbeit, in der Pflege, dazu Erzieherinnen und Erzieher. Stark betroffen auch: die Informatik. Und die Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik.
Problem nimmt durch Altersstruktur der Bevölkerung zu
Weil immer mehr Menschen in Rente gehen, könnten bis 2035 insgesamt sieben Millionen Fachkräfte fehlen. Fachleute beobachten seit Jahren, wie sich das Problem immer mehr zuspitzt. "Jetzt nach Corona, da sind auch andere Branchen dazugekommen, die nach der Pandemie eben wieder öffnen, also Gastronomie zum Beispiel. Flugbranche, Veranstaltungen. Also mittlerweile sind diese Engpässe und die Knappheit ein wirklich ziemlich breites Phänomen", erläutert Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in München.
Photovoltaikanlage: Ein halbes Jahr bis zum Termin
Auch für die Energiewende braucht es jede Menge Personal. Im niederbayrischen Aicha vorm Wald lässt Helmut Lindinger gerade seine Photovoltaikanlage erweitern. "Der Plan ist, dass ich mit Normalstromverbrauch 95 bis 100 Prozent energieautark werde und mit der Heizung zu ca. 80 Prozent, weil ich heize das Haus mit einer Wärmepumpe mit Erdwärme", erklärt Lindinger.
Ein halbes Jahr hat er auf den Termin gewartet. Völlig normal in diesen Tagen, sagt Robert Soppart, Obermeister der Elektroinnung in Passau und Geschäftsführer der Soppart GmbH. Er kennt die Personal-Probleme seiner Branche. "Der Fachkräftemangel ist so drastisch, dass der Kunde irgendwann einen Handwerker ruft, weil die Heizung nicht mehr geht oder kein Strom mehr da ist – es wird aber keiner kommen", sagt Soppart und fügt hinzu: "Wann ist das soweit? Ich denke, wir werden es in den nächsten drei Jahren erleben."
Mitarbeitergewinnung: Wertschätzung und persönlicher Kontakt
Bei Robert Soppart selbst läuft es vergleichsweise gut. Er tut viel für seine Beschäftigten. Jeder zweite Freitag ist frei. Dazu kommen Fortbildungen und Ausflüge. Das Wichtigste aber bleibe die Wertschätzung. "Dass man sagt: 'Hey, das hast du gut gemacht'." Dazu gehöre auch ein positiver Umgang mit Fehlern. "Einfach die ganze Kommunikation oder die Kultur, die wir intern leben, ist ein ganz ein wichtiger Faktor."
Doch auch Soppart muss sich ständig ins Zeug legen. Zum Beispiel auf einer Azubimesse für das Passauer Oberland – mit vielen potenziellen Fachkräften von morgen. Eine davon ist Vanessa Hölzl. Die 15-Jährige könnte im Herbst in die Ausbildung starten. Eigentlich die ideale Kandidatin. "Der Wettbewerb ist ziemlich groß – und der persönliche Kontakt ist das Wichtigste – und da kommt man ins Gespräch. Und das ist sehr vorteilhaft", findet Robert Soppart. "Eigentlich besser, als wie wenn man irgendeine Werbeanzeige schaltet." In diesem Fall sieht es gut aus: "Es ist halt eigentlich genau das, was ich machen will", sagt Vanessa Hölzl. "Ich will auf den Bau, ich mag die Atmosphäre am Bau. Und Büro wäre für mich nie eine Option." In den Ferien will Vanessa für ein Praktikum vorbeikommen.
Diakonie Herzogsägmühle: Plakat-Kampagne für mehr Personal
Auch die Diakonie bemüht sich um neues Personal. Gerade wird eine Werbe-Kampagne geplant, mitten am Münchner Hauptbahnhof. Für die Diakonie Herzogsägmühle eine große Sache, wie Sabine Keyser sagt. Sie ist zuständig für die Unternehmenskommunikation und das Recruiting. "Wir haben auch schon andere Kampagnen gemacht, auch mit Plakaten. Aber an Bahnhöfe sind wir bisher noch nie gegangen. Und von daher ist das für uns auch eine ganz neue Erfahrung und eine super Chance", ergänzt Keyser.
Doch selbst wenn die Kampagne ein Erfolg wird: Ein Problem bleibt immer – für die ganze Branche, sagt Andreas Kurz, Geschäftsführer der Diakonie Herzogsägmühle. "Wir alle, alle Wohlfahrtsverbände, alle Träger, (…) fischen aus dem gleichen Topf. Das heißt, wir konkurrieren um die gleichen wenigen Köpfe. Und das wird auf Dauer nicht mehr funktionieren."
Branchen hoffen auf Auswirkungen durch neues Gesetz
Die Hoffnung: Das neue Gesetz für ausländische Fachkräfte. Diese dürfen in Zukunft nicht mehr nur in ihrem Beruf arbeiten – sondern in jedem. Zweitens: Bisher wurden ausländische Abschlüsse mit deutschen Standards verglichen. Diese Anerkennung fällt nun teilweise weg. Und drittens: eine "Chancenkarte". Damit können Einwanderer unter bestimmten Voraussetzungen ein Jahr lang eine Stelle in Deutschland suchen.
Aus Expertensicht gibt es aber noch viele andere Stellschrauben, wie Enzo Weber erklärt: "Wir müssen dafür sorgen, dass die berufliche Entwicklung gerade von Frauen nach der Kinderphase nicht mehr so abknickt. Wir müssen Ältere länger im Job halten mit den richtigen Tätigkeitsprofilen." Man müsse zudem die Langzeitarbeitslosigkeit noch stärker abbauen. Diese sei trotz Fachkräftemangel immer noch höher als vor Corona.
Langfristige Folgen des Fachkräftemangels
Und wenn das alles nicht klappt? In der Herzogsägmühle machen sie sich darüber schon Gedanken. "Das bedeutet, dass wir jetzt – nicht für morgen, aber für übermorgen – uns überlegen müssen, welche Angebot sind Kernangebote, die wir auch weiterhin aufrechterhalten müssen, wie zum Beispiel eine Wohngruppe für Menschen mit Behinderung", sagt Geschäftsführer Andreas Kurz. "Und dann wird es aber so sein, dass es wirklich auch um Einschränkungen gehen wird und um Schwerpunktbildungen. Also einfach immer dieses weiter Ausdehnen von Angeboten beziehungsweise Bestandsangebote weiter zu erhalten – das wird ein schmerzhafter Prozess werden."
Doch auch wenn zumindest immer ein Kernangebot bleibt, bedeutet das für die Betroffenen trotzdem ein Leben mit mehr Einschränkungen, statt mit weniger.
- Zum Artikel "Fachkräftemangel: Siemens qualifiziert eigene Mitarbeiter"
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