Jede dritte Milchkuh darf im Bundesdurchschnitt auf die Weide – die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes stammen aus dem Jahr 2019. In Bayern ist es nicht einmal jede fünfte. Vergleicht man alle wichtigen Milchliefer-Bundesländer, liegt Bayern auf dem letzten Platz. Doch auf dem niedrigen Niveau gibt es einen leichten Aufwärtstrend – denn die Weidehaltung ist wirtschaftlich wieder konkurrenzfähig.
Weidehaltung bedeutet in diesem Zusammenhang: Das Milchvieh frisst sich auf einer Wiese satt, um hinterher ordentlich Milch zu geben. Es geht nicht um die immer gleiche Grünfläche hinterm Stall, auf der sich die Tiere die Füße vertreten und Luft schnappen können, während das Futter im Stall schon bereitliegt. Und es geht in diesem Fall auch nicht um magere Naturschutzflächen, auf denen ein paar zähe Fleischrinder grasen und Kuhfladen verteilen, um die Artenvielfalt effizient zu fördern. Lebensmittel in Form von Fleisch entstehen dabei quasi als angenehme Nebenwirkung. Bei der Milchviehhaltung steht dagegen die Lebensmittelproduktion im Vordergrund.
Weide rechnet sich wieder
Die Kosten für Diesel, Strom und zum Beispiel Kraftfutter sind in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen, während der Preis, den die Landwirte für die Milch bekommen, damit auf die Dauer gesehen nicht Schritt hält. Deswegen rechnet es sich für die Bauern seit einigen Jahren wieder, ihre Kühe auszutreiben. Das zeigen Ergebnisse aus bayerischen Pilotbetrieben, sagt Siegfried Steinberger, der Weideexperte der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft in Grub.
"Wenn die Weide professionell umgesetzt wird, dann ist sie gegenüber einem herkömmlichen Stallhaltungs-System mit Höchstleistung durchaus konkurrenzfähig beziehungsweise in den meisten Fällen sogar überlegen." Es leuchtet ein: Wenn die Kühe ihr Futter selbst holen, kann sich der Bauer die Arbeit und den Sprit sparen. Sie düngen auch gleich an Ort und Stelle, deswegen kann das Güllelager kleiner sein und das Güllefass muss nicht so viele Runden drehen.
Kühe sind für die Weide gemacht
Weidehaltung ist in den allermeisten Fällen auch gut fürs Tierwohl. Kanadische Verhaltensforscher haben mithilfe von aufwendigen Versuchen herausgefunden, dass Kühe auf die Weide wollen. Die Einflüsse des Wetters, die Bewegung an der frischen Luft fördern die Fitness des Viehs.
Untersuchungen zufolge sind Milchkühe, die im Sommer auf der Weide grasen, gesünder, sie leben länger und geben länger Milch. Das spart Tierarztkosten und die Kosten für die sogenannte Nachzucht. Das heißt, wenn die Kühe länger sozusagen "ihren Dienst tun", muss der Landwirt weniger Kuhkälber großziehen, um ausgemusterte Milchkühe zu ersetzen.
Umweltfreundlich und klimaschonend
Dieser Umstand bringt auch dem Klima was. Zum Beispiel im Hinblick auf den Methanausstoß. Denn eine heranwachsende Kuh rülpst zwei bis zweieinhalb Jahre lang, bis sie den ersten Liter Milch gibt. Und wenn man für eine bestimmte Milchmenge weniger Nachzucht braucht, sinkt der Methanausstoß umgerechnet auf ein Kilo Milch. Überhaupt die Klimabilanz. Die Weidehaltung spart Traktorfahrten und Beton für ein zusätzliches Güllelager. Zwei Pluspunkte.
Die Lachgas-Emissionen von Kuhfladen und Urinflecken sind wahrscheinlich günstiger als bisher angenommen, darauf weisen neue Untersuchungen aus verschiedenen Ländern hin. Und damit ist die lange Liste der Vorteile immer noch nicht zu Ende: Es gibt auch Hinweise, dass eine gut gemanagte Weidehaltung die Kohlenstofffixierung im Boden fördert. Unter anderem, weil die Kuh die Pflanzen anders kürzt als ein Mähwerk, sagt Franziska Hanko, Ökologin vom Forschungsprojekt Kuh pro Klima. "Das Abreißen stimuliert das Wurzelwachstum anders." Dazu kommt: Der Kuhfladen ist besser fürs Bodenleben als Gülledüngung oder Festmist.
Weide ist eine Extra-Leistung für die Gesellschaft
Auf beweideten Wiesen finden sich oft artenreichere Pflanzenbestände als auf gemähten. Unterm Strich ist die Weidehaltung umweltfreundlicher als die Fütterung im Stall, das zeigt zum Beispiel auch eine Arbeit im Auftrag des Umweltbundesamtes. Landwirte, die ihre Tiere austreiben, erbringen also eine Extra-Leistung für die Gesellschaft. Und dann kommt noch ein Faktor obendrauf, der nicht messbar ist: Weidetiere geben der Landschaft eine Seele – die Kühe beleben das Grünland. Das freut viele Einheimische und erst recht die Touristen.
Ausgerechnet Letzter
Und warum kommt dann in Bayern trotzdem nicht einmal jede fünfte Milchkuh auf die Weide? Ein Grund dafür liegt an der schlechten Weide-Infrastruktur. Die Flächen sind nicht gut erreichbar. In vielen Fällen liegen Straßen, Neubaugebiete und Bahngleise zwischen Stall und Wiesen, das Austreiben wird zum Hindernislauf.
Und nicht jeder Landwirt hält bei ungünstigen Bedingungen so unbeirrt an der Weide fest wie Martin und Brigitte Rothmayr aus Altstädten bei Sonthofen, die ihre elf Kühe jeden Tag einen knappen Kilometer durchs Dorf und über den Bahnübergang auf die Wiese treiben. Da müssen Autofahrer auf der Ortsdurchgangsstraße unter Umständen warten. "Manche sind echt sehr verständnisvoll und manche, die haben überhaupt kein Verständnis, denen pressiert's das ganze Jahr, sogar am Sonntagmorgen."
Freiwilliger Landtausch: In manchen Fällen der Weg zur Weide
Wenn ein Landwirt einen oder mehrere Kollegen findet, mit denen er die Flächen tauschen könnte, sodass er hinterher seine Kühe einfacher austreiben kann, organisieren die Ämter für Ländliche Entwicklung einen freiwilligen Landtausch, das geht dann ohne Notar und ohne Grunderwerbssteuer. Die Nachfrage nach einem freiwilligen Landtausch mit dem Ziel, leichter Weidehaltung betreiben zu können, hat in den letzten Jahren zugenommen, heißt es in den Ämtern für Ländliche Entwicklung in Oberbayern und Schwaben.
Doch in Bayern ist rund die Hälfte der bewirtschafteten Flächen gepachtet. Und Pachtverhältnisse können sich schnell mal ändern. Ein Problem gerade für Milchbauern, die ihre Kühe austreiben wollen, sagt Christian Kreye vom Amt für Ländliche Entwicklung in Schwaben. "Da braucht man entweder auf Dauer angelegte Pachtverhältnisse oder auf der anderen Seite wirklich einen klaren Eigentumsübergang."
Weidehaltung galt als überholt
Trotz der schwierigen Verkehrs- und Flächenverhältnisse: Weide ist nicht immer, jedoch viel öfter möglich, als man denkt. Das ist das Credo von Siegfried Steinberger, dem Weideexperten der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft. Man könne unter Umständen auch mit 300 Kühen Weidehaltung machen und selbst, wenn auf dem Betrieb ein Roboter die Melkarbeit erledigt.
Weidehaltung, die ursprüngliche Ernährungsform in der Milchviehhaltung, galt in der bayerischen Agrarberatung jedoch lange Jahre als völlig überholt. Ende der 1950er-Jahre ist die Bayerische Landesanstalt für Tierzucht aus der Weideforschung ausgestiegen. Seit knapp 20 Jahren widmet sich Siegfried Steinberger an der Landesanstalt für Landwirtschaft wieder der Weide – nach fast 50 Jahren Stillstand. "Es ist ein relativ weiter Weg, ein System, das über Jahrzehnte nicht mehr bearbeitet worden ist, wieder salonfähig zu machen."
Schlüsselfaktor Beratung
Man müsse bei den Milcherzeugern das Bewusstsein wieder mehr stärken, dass Weide ökonomisch sinnvoll ist, so Siegfried Steinberger: "Der Landwirt muss Geld verdienen, sonst ist das Ganze nicht nachhaltig, wenn er kein Geld verdient, gibts ihn nicht mehr." Deswegen sollte die Weidehaltung mehr Raum bekommen, in der Beratung und auch in der Berufsausbildung der künftigen Landwirte.
Steinberger geht davon aus, dass 95 Prozent der Betriebe, die er in den letzten Jahren professionell beraten hat, bei der Weidehaltung geblieben sind. Und er hat Zahlen, die beweisen, dass Bayern das einzige Bundesland mit einem relevanten Milchviehbestand ist, in dem die Anzahl der Milchkühe, die auf die Weide kommen, zwischen 2009 und 2019 gestiegen ist.
Renaissance der Weidehaltung?
Der Freistaat ist immer noch ganz klar auf dem letzten Platz. Doch während in den anderen Bundesländern, auch bei den Spitzenreitern Schleswig-Holstein und Niedersachsen, die Weidehaltung deutlich zurückgeht, nimmt sie in Bayern leicht zu. Das könnte sie sein, die Renaissance der Weidehaltung. Eine professionelle und auf die jeweiligen Betriebsverhältnisse zugeschnittene Beratung – sie könnte noch viel bewirken. Dazu bräuchte es jedoch mehr Berater und Beraterinnen.
Mit dem Jungvieh anfangen
Was eigentlich immer geht: Auch die Betriebe, die keine Flächen in der Nähe haben, auf die sie ihre Kühe austreiben können, können Weidehaltung machen. Indem sie das Jungvieh, also die künftigen Kühe, über den Sommer auf die Alm fahren oder auf irgendeine andere Weide. Das Jungvieh gibt noch keine Milch und muss nicht jeden Tag zurück in den Stall zum Melken und kann deshalb auch auswärts den Sommer verbringen.
Dieses Jahr haben Milchbauern aus dem Landkreis Ansbach ihr Jungvieh zum Weiden nach Oberbayern geschickt – organisiert von Siegfried Steinberger. "Es gibt diesen netten Spruch, 'was Kälbchen nicht lernt, lernt die Kuh nimmermehr'. Eine Milchkuh will nicht zwingend auf die Weide, wenn sie es nicht gelernt hat. Man muss praktisch mit den Jungtieren anfangen, dass die wieder richtig grasen, also das Fressen vom Gras erlernen, dass die mit der Weide umgehen können." Immerhin werden in Bayern knapp die Hälfte der Grundfuttervorräte vom Jungvieh gefressen.
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