Eine "hochbrisante Studie" soll angeblich bestätigen, dass die mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 weitaus häufiger Nebenwirkungen hervorrufen als bekannt. Ingo Hahn von der AfD-Fraktion im Bayerischen Landtag behauptete in einem Artikel: "Die neuesten Studienergebnisse einer international renommierten Forschergruppe aus Maryland sind hochbrisant und erschreckend. Impfnebenwirkungen und schwere Folgeschäden treten weitaus häufiger auf als uns Politiker und Pharma-Lobbyisten jahrelang weismachen wollten."
Dafür liefert die Studie allerdings keinen Beleg. Ebenso wenig für die Behauptung, bei den mRNA-Impfstoffen wäre das Risiko größer als der Nutzen. Als Beleg dient ein Artikel in der Fachzeitschrift Vaccine vom 22. September 2022, der online bereits Ende August erschienen war.
Dieser Artikel rief jedoch nach seinem Erscheinen heftige Kritik hervor, so wie auch schon nach seiner ersten Veröffentlichung als Preprint im Juni 2022. Der irische Wissenschaftsautor David Robert Grimes beispielsweise bezeichnet ihn als völligen Blödsinn ("utter bunk") und kompletten Müll ("Hot flaming garbage"). Er und andere Kritiker werfen den Autoren unter anderem Rosinenpickerei bei den Daten vor - und so lange mit diesen herumgespielt zu haben, bis das herauskam, was sie haben wollten.
Vorwurf: statistische Tricks und willkürliche Datenauswahl
Zunächst: Der Artikel präsentiert nicht die Ergebnisse einer neuen Studie. Er basiert auf den Daten der Zulassungsstudien der Impfstoffe von Biontech und Moderna aus dem Jahr 2020. Die Autoren des Artikels haben diese Daten lediglich noch einmal nach eigenen Kategorien ausgewertet.
Ihr Ergebnis: Die Studien-Teilnehmer, die die mRNA-Covid-19-Impfstoffe von Pfizer oder Moderna erhalten hatten, hätten ein höheres Risiko für schwere Nebenwirkungen als diejenigen, die ein Placebo erhalten hatten. Kritiker wie David Gorski, Onkologe und Chefredakteur der Website Science-based Medicine, Jeffrey Morris, Professor für Biostatistik an der University of Pennsylvania, und der Schweizer Sozialwissenschaftler Marko Kovic werfen der Auswertung der Daten jedoch gravierende Mängel vor, unter anderem diese:
- Die ausgewerteten Daten stammen aus einem zu kurzen Zeitraum, um Impf-Nebenwirkungen und schwere Covid-19-Verläufe vergleichen zu können: Die Teilnehmer der Zulassungsstudien waren durchschnittlich zwei Monate beobachtet worden. Unerwünschte Nebenwirkungen von Impfstoffen zeigen sich jedoch in der Regel nach wenigen Tagen oder Wochen. Der Schutz vor einer Krankenhauseinweisung hält aber deutlich länger an. Die Autoren erfassen also wahrscheinlich die meisten Nebenwirkungen der Impfstoffe, berücksichtigen aber nicht den lang anhaltenden Schutz vor einem schweren Krankheitsverlauf.
- Die Studie vergleicht die Zahl der einzelnen Nebenwirkungen mit der Zahl der schweren Covid-19-Fälle. Ein Studienteilnehmer, der nach einer Impfung zum Beispiel Bauchschmerzen und Durchfall hatte, wurde also möglicherweise doppelt gezählt, ein Covid-19-Kranker, der ins Krankenhaus eingewiesen wurde, hingegen nur einmal. Die Autoren geben das auch zu. Sie hätten aber Symptome nicht einzelnen Studienteilnehmern zuordnen können, da die Unternehmen Biontech und Moderna die dafür notwendigen Daten noch nicht freigegeben hätten.
- Der Beobachtungszeitraum fiel in eine Zeit, als das Coronavirus SARS-CoV-2 in der Bevölkerung nur wenig verbreitet war. Das Ansteckungsrisiko war also gering. An den beiden Studien nahmen rund 74.000 Menschen teil, von denen fast 37.000 den Impfstoff erhielten. An Covid-19 erkrankten jedoch nur 366 Teilnehmer. Die Impfstoffe hatten also weitaus öfter Gelegenheit, Nebenwirkungen zu verursachen, als das Coronavirus, einen schweren Krankheitsverlauf auszulösen. Wäre der Beobachtungszeitraum einige Monate später im Herbst oder Winter gewesen, als viele Menschen mit dem Coronavirus infiziert waren, hätte das Verhältnis zwischen Impfnebenwirkungen und Krankenhauseinweisungen wegen Covid-19 womöglich ganz anders ausgesehen: Die Zahl der Krankenhauseinweisungen wäre deutlich höher gewesen, die Zahl der beobachteten Impfnebenwirkungen hingegen konstant geblieben.
- Die Autoren zählen die Nebenwirkungen nach willkürlichen Kriterien. Grundlage war die Covid-19-AESI-Liste der Brighton Collaboration (AESI: Adverse Events of Special Interest, unerwünschte Ereignisse von besonderem Interesse). Diese Liste wurde aber nach Ansicht der Kritiker willkürlich ergänzt. Die Autoren nutzen statistische Tricks, um ihre Aussage zu belegen. Beispielsweise sei nur ein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen zu erkennen, wenn die Daten der beiden Impfstoffe kombiniert werden. Bei getrennter Betrachtung der beiden Impfstoffe sei dagegen die statistische Unsicherheit zu groß und damit die Genauigkeit zu gering, um mehr als ein Zufallsergebnis zu erhalten.
Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass einem der Autoren der Studie, Peter Doshi, bereits Anfang 2021 vorgeworfen wurde, die Daten aus den Zulassungsstudien der Impfstoffe mithilfe von Statistik zu manipulieren. Er stellte in der Fachzeitschrift British Medical Journal, für die er selbst als Leitender Redakteur arbeitet, die Behauptung auf, der mRNA-Imfpstoff von Biontech sei nur zu 19 bis 29 Prozent wirksam und nicht, wie die Zulassungsstudie ergeben hatte, zu etwa 90 Prozent. Allerdings hatte er bei seiner Auswertung auch diejenigen als Covid-19-Fälle gezählt, die grippeähnliche Krankheitssymptome hatten, aber einen negativen PCR-Test, bemängelt unter anderem der Biostatistiker Jeffrey Morris. Trotz der methodischen Mängel nahm die AfD-Fraktion den Artikel zum Anlass für eine Anfrage im bayerischen Landtag.
Autoren schränken Aussagekraft ihrer Studie selbst ein
Die in dem Vaccine-Artikel präsentierten Ergebnisse widersprechen den meisten Studien, die nach der Zulassung der Impfstoffe durchgeführt wurden. Einige hatten hunderttausende Teilnehmer, unter denen tatsächlich sehr seltene Nebenwirkungen wie Herzmuskelentzündungen aufgespürt wurden. Inzwischen wurden die mRNA-Impfstoffe milliardenfach verimpft.
Eine erneute Auswertung der inzwischen rund zwei Jahre alten Daten aus den Zulassungsstudien der mRNA-Impfstoffe mache daher nicht allzu viel Sinn, sagt der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission Thomas Mertens dem #Faktenfuchs. Bei der Bewertung müssten heute unbedingt die Erkenntnisse aus der Zeit nach der Zulassung der Impfstoffe einbezogen werden.
Nach Ansicht von Mertens lässt der umstrittene Artikel keine aussagekräftigen Schlussfolgerungen zu. Die Autoren schränken die Aussagekraft ihrer Arbeit allerdings auch selbst deutlich ein. Sie weisen auf zahlreiche gravierende Schwachstellen hin und betonen, dass eine umfassendere Analyse notwendig sei. Dafür seien aber die Daten für jeden einzelnen Teilnehmer aus der Studie notwendig. Die Autoren bedauern, dass diese auch zwei Jahre nach der Freigabe der Covid-19-Impfstoffe noch nicht zugänglich sind. Thomas Mertens ist in diesem Punkt gleicher Ansicht: Auch er hält die Freigabe der individuellen Daten aus den Zulassungsstudien für wichtig und sehr wünschenswert, um größtmögliche Datentransparenz zu schaffen.
Die Erläuterungen, warum die Studie nur einen begrenzten Erkenntniswert hat, stehen allerdings erst am Ende des Artikels. Die Zusammenfassung der Ergebnisse ist hingegen an dessen Anfang zu finden. Sie endet mit der Aussage, das Risiko für schwerwiegende unerwünschte Ereignisse sei bei den Empfängern von mRNA-Impfstoffs um 16 Prozent höher als in der Placebo-Gruppe gewesen.
Eine Aussage, die sich zwar gut für Schlagzeilen und Aufmerksamkeit in den sozialen Netzwerken eignete, aber die Einschränkungen der Studie außer Acht ließ.
Unterschiedliche Ansichten gehören zur wissenschaftlichen Diskussion
Ob oder wie Daten in dieser Studie verzerrt, manipuliert und ausgewählt benutzt wurden, können Laien nicht beurteilen. Fachleute aus der Wissenschaft sind dafür zuständig, die Methoden und Ergebnisse der Studie zu beurteilen und diskutieren. "Unterschiedliche Meinungen in der Wissenschaft sind normal, dass sich einzelne Forschende gegen einen "Mainstream" stellen (und, selten, gegen alle Widerstände recht behalten), ebenfalls", schreibt Emanuel Wyler, Molekularbiologe und Impfstoffforscher am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel anlässlich der hitzigen Diskussion über den Artikel von Doshi und seinen Kollegen. Aus Sicht der Wissenschaft gebe es aber grundsätzlich ein Interesse daran, ein diverses Spektrum von Erkenntnissen erst einmal unabhängig von ihrer Qualität abzubilden.
Das Urteil über die Qualität der Ergebnisse kann dann aber auch hart ausfallen. Leif Erik Sander, Professor für Infektionsimmunologie und Impfstoffforschung an der Universitätsmedizin Charité in Berlin, schreibt auf Twitter: "Doshi's Team hat die Daten und Definitionen massiv verdreht. Die Schlussfolgerungen sind nicht haltbar. Die Arbeit ist manipulativ. Man sollte offen über Impfkomplikationen sprechen, Betroffenen helfen und Impfungen verbessern. Aber diese Arbeit trägt dazu nichts bei."
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!
Fazit
Die Studie taugt nicht als Beweis, dass mRNA-Impfstoffe mehr schwere Nebenwirkungen hätten als bisher angenommen. Zum einen werfen Kritiker den Autoren Manipulation bei der Datenauswertung vor. Zum anderen geben Doshi und seine Kollegen auch selbst zu, dass ihre Arbeit methodische Schwächen und ihr Ergebnis daher nur begrenzte Aussagekraft hat. Grund dafür seien die fehlenden Daten der einzelnen Teilnehmer aus den Zulassungsstudien.
Aus wissenschaftlicher Sicht wäre es tatsächlich wünschenswert, wenn Biontech und Moderna diese Daten freigeben würden, sagt unter anderem Stiko-Präsident Thomas Mertens. Seiner Ansicht nach ergibt eine erneute Auswertung allerdings nicht allzu viel Sinn, denn es gebe keinen Grund, dass diese völlig überraschende Erkenntnisse zu den Nebenwirkungen von mRNA-Impfstoffen liefern könnten Diese wurden in der Zwischenzeit bereits milliardenfach angewendet und ihre Nebenwirkungen in vielen anderen Studien untersucht.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.