Was haben Netflix, YouTube, Facebook, Instagram oder die Smartphones aller Hersteller weltweit gemeinsam? Sie alle nutzen Erfindungen aus Erlangen. "In allen diesen Handys stecken mindestens sechs Technologien von Fraunhofer", sagt der Leiter des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS in Erlangen, Bernhard Grill, einer der MP3-Erfinder. Diese Technologien sorgen etwa dafür, dass Musik voll klingt, Nebengeräusche unterdrückt, Lautstärken angepasst oder gesprochene Sprache verstanden wird. Dass zum Beispiel ein Gesprächspartner am Smartphone inzwischen besser und klarer klingt als einer, mit dem man über ein Festnetz-Telefon spricht, das ist einer der MP3-Nachfolge-Technologien aus Erlangen zu verdanken.
Audio-Tests im Klang-Raumschiff
Getestet werden die verschiedenen Technologien zum Beispiel im "Mozart". So heißt ein raumschiffartiges Studio im Erlanger Fraunhofer-Institut. Zwei kreisrunde Stahlkonstruktionen hängen an der Decke. An ihnen sind rundherum Lautsprecher befestigt. Wer sich auf den Stuhl in der Mitte der beiden Stahlkreise setzt, wird von Musik oder Geräuschen von allen Seiten geradezu überflutet. "Dieser Raum wurde optimiert, um 3D-Audio zu mischen und zu hören", erklärt die zuständige Toningenieurin Daniela Rieger. "Dafür ist es wichtig, dass man sehr genau lokalisieren kann, von wo ein Geräusch kommt." Und das geht am Besten mittendrin, auf dem sogenannten "Sweet Spot".
Audio-Codec für das Live-dabei-Gefühl
Aktuell testet Daniela Rieger MPEG-H – das ist ein Audio-Codec, der ganz neue Klangerlebnisse ermöglichen will. Mit ihm ist es möglich, den Zuschauerinnen und Zuschauern bei der Übertragung eines Konzerts ein "Wie-Live-dabei-Gefühl" zu vermitteln. Wenn die entsprechende Einstellung ausgewählt wird, ist plötzlich das jubelnde und singende Publikum zu hören, das von den Fernseh- und Radiosendern normalerweise zugunsten des Gesangs gedämpft wird. Die Toningenieurin führt es am Beispiel European Song Contest 2018 vor. Auf einer Leinwand erscheint das französische Duo "Madame Monsieur". Der Mann und die Frau sind elegant in schwarz gekleidet und singen "Mercy". Der Höreindruck: Überwältigend!
"Wunsch beim Publikum für Personalisierung ist da"
Wer sich statt des Live-Erlebnisses ganz auf die Musik konzentrieren will, wählt eine Voreinstellung ohne Klanghöhen oder bleibt beim 3D-Mix, bei dem die Musik im ganzen Raum erklingt. Daniela Rieger führt den Codec immer wieder auf Messen oder Besuchergruppen im Institut vor. Ihre Erfahrung: Jedes Preset hat Liebhaber. "Der Wunsch beim Publikum, Personalisierung zu bekommen, ist definitiv da."
Rundum-Live-Konzert im Auto
Die neue Technologie kann auch an der Soundbar im heimischen Wohnzimmer oder im Auto angewendet werden. Hinter einem als "Red Zone" gekennzeichneten Institutslabor stehen einige der neuesten Modelle großer Hersteller. Hier darf nicht einmal das Handy mit hinein – die Autos sind zum Teil noch nicht auf dem Markt. Mindestens vier Lautsprecher brauchen die Autos für den Rundum-Klang-Effekt, erklärt Produktmanagerin Sophia Emmert und wählt Robbie Williams´ Live-Version von "Angel" aus. "Vor allem bei so einem Live-Stück hat man das Gefühl, als stünde man mitten im Konzert", schwärmt sie. "Überall um einen herum passiert was. Das ist ein super toller Effekt." Sobald Sophia Emmert jedoch die Voreinstellung ausschaltet, ist es, als ob der Klang nach vorne klappt. Der 3D-Effekt ist weg.
Damit der Höreindruck mit dem jeweiligen Automodell harmoniert, wird im Labor noch einmal nachgebessert. "Das machen unsere Mitarbeiter mit den goldenen Ohren", sagt die Produktmanagerin.
"Klare Sprache" für die ARD Mediathek
Übrigens: Auch die ARD nutzt eine der neuen Technologien aus Erlangen. Mit ihr ist es möglich, die Lautstärke von Dialogen anzuheben und den Hintergrund abzusenken. Wie das klingt, kann zum Beispiel in der ARD-Mediathek getestet werden – alle Filme, die hier mit "klarer Sprache" beworben werden, werden automatisiert aus der Original-Audio-Mischung erstellt und in die Mediathek eingespeist. Das gelingt, weil ein Codec den Mix in seine Bestandteile zerlegt und neu zusammenfügt. Wird im Film eine Zeitlang nicht gesprochen, bleibt der Geräuscheteppich, wie er vom Regisseur gedacht war – dank künstlicher Intelligenz.
Dank MP3: 400 Audio-Entwickler bei Fraunhofer
Mehr als 400 Beschäftigte im Erlanger Fraunhofer-Institut, sagt Institutsleiter Bernhard Grill, arbeiten heute an verschiedenen Audio-Codecs. Ohne die Erfindung von MP3 wäre das nicht möglich gewesen, meint Grill, der direkt nach seinem Studium zu der kleinen Fraunhofer-Forschungsgruppe rund um MP3-Erfinder Karlheinz Brandenburg dazustieß. "Ich glaube, ich war die Nummer 30", schmunzelt er.
Größtes Fraunhofer Institut in Deutschland
Heute hat das Fraunhofer IIS insgesamt etwa 1.300 Beschäftigte und noch einmal etwa 600 Werksstudierende. Damit stehe in Erlangen das größte Fraunhofer-Institut Deutschlands. "Wir sind so groß wie fünf andere Fraunhofer-Institute", sagt Grill. Finanziert wurde der Aufschwung unter anderem durch die Lizenzen für das MP3-Patent. Das ist zwar schon 2017 ausgelaufen, aber die Patente für die Nachfolge-Codecs spülen weiterhin Geld in die Kasse – das wiederum in die Forschung investiert wird. Allein im Jahr 2022 reichten Mitarbeitende des Fraunhofer IIS laut Jahresbericht 64 Erfindungsmeldungen ein: aus den Forschungsbereichen Audio, Medientechnologie und Kommunikationssysteme.
MP3 laut Studie lohnend für Standort Deutschland
Und: MP3 hat sich nach Darstellung des Instituts nicht nur für Erlangen gelohnt, sondern für den Standort Deutschland insgesamt. Eine Studie aus dem Jahr 2008 habe gezeigt, dass Bund und Länder durch MP3 jährlich rund 300 Millionen Euro an Steuern eingenommen hätten und tausende Arbeitsplätze entstanden seien, vor allem im Handel.
Wertschöpfung "da, wo man sich Dinge ausdenkt"
Natürlich sei es traurig, dass etwa der Nürnberger Grundig-Konzern die Erfindung MP3 damals nicht aufgegriffen habe, meint Institutsleiter Bernhard Grill. Auch Siemens war zunächst interessiert und erstellte Prototypen. Doch die Produktion sei nur ein kleiner Beitrag, um ein Produkt erfolgreich auf den Markt zu bringen. "Die Wertschöpfung entsteht heute im Entwurf der Verfahren und der Lizenzen dafür", sagt Grill. "Die eigentliche Wertschöpfung passiert da, wo man sich die Dinge ausdenkt."
💡 Was ist ein Codec?
Ein Codec ist ein hardware- oder softwarebasierter Prozess, der große Datenmengen komprimiert und dekomprimiert. Codecs verkleinern Mediendateien wie Video, Audio und Standbilder, um Speicherplatz zu sparen und um Dateien übers Internet verschicken zu können. MP3 ist ein Audio-Codec.
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