Montagmorgen im Büro: Das Team steht gedrängt in der Kaffeeküche und unterhält sich lautstark über das vergangene Wochenende. Es wird gelacht und gescherzt, ein fröhlicher Plausch unter Kollegen. Für hochsensible Menschen können informelle Zusammentreffen dieser Art echte Bewährungsproben darstellen.
"Hochsensiblen Menschen fehlt ein Filter gegenüber äußeren Einflüssen wie Geräusche, Licht, aber auch für soziale Reize", erklärt Michael Jack. Der Präsident des Informations- und Forschungsverbunds Hochsensibilität gehört selbst zu den etwa 30 Prozent der Bevölkerung, die laut einer Nature-Studie als hochsensibel gelten.
Hochsensibilität: Problem der Reizüberflutung
Von Hochsensibilität Betroffene sind durch äußere Einflüsse schneller reizüberflutet, gestresst und benötigen daher Rückzugsmöglichkeiten. Doch viele Menschen wissen gar nicht, dass sie zum Kreis der Hochsensiblen gehören. Der promovierte Jurist Michael Jack sieht sich hier als Aufklärer: "Ich möchte Betroffenen die Chance geben, sich selbst und ihre Disposition als Hochsensible besser zu verstehen, damit sie ihr Leben im Privaten wie im Arbeitsumfeld besser gestalten können."
Ein Test, um Hochsensibilität festzustellen
Aufklärung tut not, denn Hochsensibilität ist ein noch junges Forschungsfeld. Erstmals wissenschaftlich beschrieben wurde die Eigenschaft von der US-Psychologhin Elaine N. Aron. Sie definierte Hochsensibilität 1997 als eine grundsätzlich höhere Aufnahme- und Verarbeitungsbereitschaft des neuronalen Systems. Anhand von Interviews, die sie mit hochsensiblen Menschen führte, entwickelte sie einen 27 Fragen umfassenden Test, in dem per Selbstzuschreibung festgestellt werden kann, ob jemand hochsensibel ist oder nicht. Die daraus resultierende "Highly Sensitive Person Scale" (HSPS) legte die Basis für die weitere Erforschung der "Sensibilität in der sensorischen Verarbeitung" (engl: sensory-processing sensitivity), wie Hochsensibilität wissenschaftlich korrekt bezeichnet wird.
Hochsensibilität ist keine Verhaltensstörung
Aron ging in ihren Studien davon aus, dass Hochsensibilität in den meisten Fällen genetisch vererbt ist. Jüngere Studien weisen zudem darauf hin, dass sich diese Eigenschaft in entsprechenden Hirnaktivitäten widerspiegelt. Hochsensibilität gilt dabei laut wissenschaftlichen Studien weder als Krankheit noch als Störung, sondern ist eine Persönlichkeitseigenschaft ebenso wie beispielsweise Introversion oder Neurotizismus.
Zugleich unterscheidet sich Hochsensibilität von Verhaltensproblemen und emotionalen Beeinträchtigungen wie ADHS oder Autismus, sagte die Psychologin Corina Greven, Professorin für Hochsensibilität am Radboud University Medical Center in den Niederlanden gegenüber dem SWR.
Während Hochsensibilität als eine Eigenschaft menschlicher Persönlichkeit gelte, seien ADHS und Autismus als Störung mit diagnostischen Merkmalen verankert. "An der Oberfläche gibt es sicherlich Gemeinsamkeiten durch Reizüberflutung. Jedoch sind Personen mit ADHS häufig eher impulsiv, während Hochsensible eher gehemmt sind." Unterschiede ergäben sich bei Autismus auf der Ebene der Empathiefähigkeit. Hochsensible könnten sich sehr gut in andere hineinversetzen, während Menschen mit Autismus hier meist Probleme haben.
Hochsensibele haben ein Gespür für Veränderungen
Im Berufsleben kommt hochsensiblen Menschen die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und ein besonderes Gespür für Veränderungen in Geschäftsfeldern oder Spannungen am Arbeitsplatz zu entwickeln, besonders entgegen. "Hochsensible Menschen zeichnet eine hohe emotionale Berührbarkeit, ein intensives Erleben, tiefe und komplexe Verarbeitung, hohes Einfühlungsvermögen, hohe emotionale Intelligenz und soziale Kompetenz und Kreativität aus. Sie sind häufig Querdenkerinnen und Neudenkerinnen, haben ein gutes Gespür für gesellschaftliche Trends," schreibt die systemische Coaching Lore Sülwald im Online-Fachmagazin "Nachhaltige Jobs".
Die Kompetenzen der hochsensiblen Mitarbeitenden lägen - bei richtiger Förderung - besonders im analytischen, schnellen und vernetzten Denken.
Hochsensibilität als Frühwarnsystem
Auch Michael Jack betont, dass Hochsensible nicht nur Mitarbeitende seien, die es gelte in Watte zu packen. Vielmehr könnten sie im Team die Rolle eines Frühwarnsystems einnehmen: "Hochsensible im beruflichen Umfeld gleichen dem Kanarienvogel in der Kohlemine: Wenn der Kanarienvogel plötzlich umkippt, dann weiß man, die Gaskonzentration ist hoch", erklärt Michael Jack. Hochsensible merken folglich mitunter, dass etwas im Unternehmen schiefläuft, lange bevor es im regulären Betrieb sichtbar wird.
Selbstfürsorge wichtig
Da hochsensible Mitarbeiter häufig eher introvertierte Menschen sind, die wenig über ihre eigenen Bedürfnisse sprechen, ist es für Kollegen am Arbeitsplatz gar nicht so einfach zu erkennen, wann es für Betroffene zu viel wird, etwa wenn der Lärmpegel im Büro zu hoch oder die Arbeitsbelastung zu groß wird. "Wichtig ist, dass Hochsensible selbst Reizmanagement betreiben, und zwar, bevor es zu einer Reizüberflutung kommt." Selbstfürsorge sei hier ein wichtiges Stichwort.
"Absolut existenziell ist der bewusste Umgang mit der eigenen Wahrnehmung," sagt Michael Jack. "Wenn man um die eigene Reizempfindlichkeit weiß, dann kann man sagen okay, du nimmst das jetzt intensiver wahr." Das Gefühl der Kontrolle sei hier wichtig, damit Betroffene verstehen, wie das eigene Nervensystem arbeitet. Und letztlich sei die Hochsensibilität einzelner immer auch eine Chance für das ganze Team, sagt Michael Jack: "Wenn es den Hochsensiblen am Arbeitsplatz gut geht, sind alle produktiver."
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