Dieser Text erschien das erste Mal am 08. Dezember 2022. Zeitliche Bezüge können daher veraltet sein. Angesichts des erneuten bundeweiten Warntages haben wir uns dennoch entschieden, ihn nochmal zur Verfügung zu stellen.
Die meisten Handynutzer in Deutschland sollten in den vergangenen Wochen oder Tagen eine SMS von ihrem Mobilfunkanbieter bekommen haben. O2 versandte etwa diesen Text:
"Zukünftig warnt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe per Handy vor drohenden oder sich ausbreitenden Notfällen und Katastrophen. Zu Testzwecken wird es dafür am 08.12.2022 ab 11 Uhr bundesweit einen Probealarm geben."
- Zum Artikel: Sirenen und App-Alarm: So läuft der Warntag 2023
Neuheit für Deutschland
Dass der Staat die Bevölkerung direkt über das Handy warnt, das geschieht schon in einigen Ländern wie den USA, Japan, den Niederlanden und Griechenland. In Deutschland ist dies aber eine Neuheit. Womöglich hat die Ankündigung deshalb zu Verunsicherung geführt: Wieso kann der Staat mir direkt eine Nachricht schicken? Welche Gefahren birgt das aus Datenschutzsicht?
Verschwörungstheoretiker nutzen diese Verunsicherung, um Ängste zu schüren und Falschinformationen zu verbreiten. Darunter etwa die Behauptung, dass der Staat sich über die Warnmeldung unbemerkt Zugang zu Handys verschaffen könnte. In zahlreichen Telegram-Kanälen machte zuletzt diese Nachricht die Runde:
"Vorsicht!!! Warntag am 08.12.2022 und SMS!!! Wenn Ihr eine SMS bekommt, nicht öffnen! Ohne anzuschauen löschen! Der sogenannte Staat könnte sich Zugriff auf Dein Handy erschleichen!"
Darunter ist ein Video verlinkt, in dem es um sogenannte stille SMS geht. Das sind SMS, die unbemerkt auf dem Handy eingehen und von Ermittlungsbehörden etwa zur Ortung von Personen eingesetzt werden - nachdem ein Richter dies angeordnet hat. Verbreitet wurde diese Behauptung von reichweitenstarken Accounts wie dem von Schlagersänger Michael Wendler, der seit Beginn der Corona-Pandemie mit der Verbreitung von Falschinformationen und Verschwörungstheorien auffällt. Der Post zum Warntag wurde alleine auf seinem Kanal rund 43.000 Mal angeschaut (Stand: 07.12.2022).
Doch was ist dran an der Behauptung, der Staat könne sich mithilfe der Warnmeldung Zugriff aufs Handy verschaffen?
Cell Broadcast: Aus Datenschutzsicht unbedenklich
Nichts. Denn aus Datenschutzsicht ist die Cell-Broadcast-Technik, über die die Warnmeldung verschickt wird, völlig unbedenklich. Datenschützer hätten sie sogar explizit gefordert, sagt Cristof Stein, Pressesprecher des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit im Gespräch mit dem #Faktenfuchs.
Denn anders als bei einer SMS muss die Mobilfunknummer des Empfängers beim Cell Broadcast gar nicht bekannt sein. Die Warnnachricht wird dabei an alle Handys verschickt, die in einem bestimmten Abschnitt des Mobilfunknetzes - einer sogenannten Funkzelle - registriert sind. Also an alle Handys, die sich in diesem Gebiet automatisch mit dem Netz verbunden haben.
"Der Absender der Nachricht weiß so wirklich nichts über mich", so Stein.
Der Absender der Warnmeldung, also die Katastrophenschutzbehörden der Länder und Kommunen oder die Polizei, kennen dabei weder die Mobilfunknummer oder andere Daten des Empfängers, noch können sie diese Daten erfassen, schreibt auch ein Sprecher der Bundesnetzagentur in einer Mail an den #Faktenfuchs. Die Bundesnetzagentur ist in Deutschland unter anderem für Telekommunikation zuständig und an der Einführung der Cell-Broadcast-Technik in Deutschland beteiligt. Auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sowie das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik haben an dem Projekt mitgearbeitet.
Linus Neumann, Berater für IT-Sicherheit und einer der Sprecher des Chaos Computer Clubs, befürwortet die Einführung von Cell Broadcast: "Dieses System wurde für die Bevölkerungswarnung in Katastrophenfällen entwickelt. Es ist dafür geeignet und das einzige, was an dieser Sache ärgerlich ist, ist, dass wir es die letzten Jahrzehnte nicht genutzt haben."
Wie genau funktioniert Cell Broadcast?
Die Technologie funktioniert ähnlich wie das klassische Radio: Der Sender übermittelt seinen Inhalt an alle Empfänger in einem bestimmten Gebiet. Wer um 10 Uhr sein Radio auf einer bestimmten Frequenz einschaltet, hört die Nachrichten.
So funktioniert es auch bei der Warnmeldung mittels Cell Broadcast: Wessen Handy gerade eingeschaltet und empfangsbereit ist, der erhält die Nachricht. Wessen Handy gerade ausgeschaltet oder im Flugmodus ist, dem wird sie - anders als bei einer klassischen SMS - später beim Einschalten auch nicht mehr angezeigt.
Die Katastrophenschützer versenden die Warnmeldungen deshalb mehrmals hintereinander. Bei den Warnmeldungen über Cell Broadcast handelt es sich übrigens ausschließlich um Textnachrichten. Bilder oder Karten werden nicht übertragen, schreibt ein Sprecher der Bundesnetzagentur.
Die Cell-Broadcast-Technologie hat gegenüber dem klassischen SMS-Versand gleich mehrere Vorteile, betont Thomas Blinn, Sprecher der AG Kritische Infrastrukturen (AG Kritis). Die AG Kritis ist eine Gruppe von Fachleuten, die sich die Verbesserung der IT-Sicherheit und Resilienz von Kritischen Infrastrukturen zum Ziel gesetzt hat.
Neben der Tatsache, dass die Rufnummer des Empfängers dafür nicht benötigt wird und man sich vorher nicht registrieren muss, lassen sich laut Blinn mit Cell Broadcast außerdem sehr zuverlässig alle Nutzer in einer bestimmten Region erreichen. Denn die Funkzelle sendet die Textnachricht an alle Mobiltelefone, die in Reichweite der Funkzelle sind - zum Beispiel alle Handy-Nutzer, die mit einer Funkzelle in München verbunden sind. Münchner hingegen, die sich gerade in Stuttgart aufhalten, empfangen die Nachricht nicht, weil ihr Mobiltelefon gerade bei einer Funkzelle in Stuttgart angemeldet ist. Das hat den Vorteil, dass die Warnmeldungen wirklich nur die Menschen erreichen, für die sie relevant sind.
Fachleute weisen noch auf einen anderen Vorteil der Technologie hin: Sie funktioniere schnell und zuverlässig - auch dann, wenn die Mobilfunknetze gerade stark ausgelastet sind, wie man das zum Beispiel an Silvester kennt. "Vom Auslösen eines Alarms bis zum Erscheinen der Warnmeldungen auf den Endgeräten in dem betroffenen Gebiet vergehen maximal 30 Sekunden", heißt es etwa auf der Seite des Mobilfunkanbieters O2 Telefónica.
Und: "Selbst wenn eine Gesprächseinwahl in der Funkzelle wegen Überbuchung nicht möglich ist, hat dies keinen Einfluss auf die Datenübertragung einer Warnmeldung über Cell Broadcast", teilt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe auf seiner Webseite mit.
Welche technischen Voraussetzungen müssen für Cell Broadcast erfüllt sein?
Um Cell Broadcast-Warnungen zuverlässig empfangen zu können, müssen einige wenige technische Voraussetzungen erfüllt sein. Die Handys müssen eingeschaltet und empfangsbereit sein. Sie müssen also mit einer funktionierenden SIM-Karte ausgerüstet sein und dürfen sich nicht im Flugmodus befinden.
Außerdem müssen sie so konfiguriert sein, dass sie Cell-Broadcast-Meldungen auch empfangen können. Dafür ist keine besondere App erforderlich. Allerdings muss der Empfang auf manchen Geräten in den Einstellungen aktiviert werden und es müssen entsprechende Anpassungen vorgenommen werden. Bei aktuellen Geräten ist Cell Broadcast meist bereits standardmäßig aktiviert. Voraussetzung ist beim Betriebssystem iOS mindestens die Version 15.6.1 und bei Android die Version 11.
Für Nutzerinnen und Nutzer älterer Geräte empfehle es sich, bei den Herstellern nachzufragen, ob und wie Cell Broadcast aktiviert werden könne, teilt der IT-Branchenverband Bitkom mit. Parallel könne man zudem die Warn-Apps NINA oder Katwarn nutzen.
Nein, mit Cell Broadcast können keine Handys geortet werden
Und was hat das alles nun mit den "stillen SMS" zu tun, von denen in dem Video aus der Telegram-Nachricht die Rede war?
Gar nichts, sagt Thomas Blinn von der AG Kritis. Denn die Cell-Broadcast-Warnmeldung sei eine andere Technologie als die der traditionellen SMS. Insofern sei sie eben auch keine "stille SMS". Für diese werde, genau wie für herkömmliche SMS, immer die Rufnummer des Empfängers benötigt.
Der Begriff "stille SMS" bezeichnet eine besondere Form der SMS, die unter anderem von Ermittlungsbehörden eingesetzt wird, um - infolge einer richterlichen Anordnung - Bewegungsprofile von Menschen zu erstellen. Anders als bei herkömmlichen SMS, so Blinn, werde der Eingang und Inhalt bei einer "stillen SMS" nicht angezeigt. Der Empfang löse auch kein akustisches Signal aus. Der Empfänger oder die Empfängerin bekommt also nicht mit, dass eine SMS eingegangen ist.
Durch die "stille" SMS fallen jedoch Daten beim Netzbetreiber an. Unter anderem kennt der Netzbetreiber die aktuelle Funkzelle, in der sich das Mobiltelefon aufgehalten hat, als es den Empfang der "stillen" SMS gegenüber der Basisstation bestätigt hat. Sofern eine richterliche Anordnung zur Telefonüberwachung nach § 100i Strafprozessordnung vorliegt, muss der Netzbetreiber diese Information den Ermittlungsbehörden vorlegen, die daraus Bewegungsprofile erstellen können.
Das alles passiert bei Cell Broadcast nicht, bestätigt auch Linus Neumann vom Chaos Computer Club im Gespräch mit dem #Faktenfuchs. Das gebe die Technologie nicht her.
Fazit
Über Telegram verbreiten Verschwörungstheoretiker das Gerücht, der Staat könne sich am bundesweiten Warntag mithilfe einer Probe-Warnmeldung Zugriff auf Handys verschaffen.
Laut Datenschützern sind solche Ängste unbegründet. Im Gegenteil: Sie haben die Einführung der sogenannten Cell-Broadcast-Technologie, die am 8. Dezember 2022 das erste Mal großflächig in Deutschland erprobt wird, sogar lange empfohlen. Eben weil sie so datenschutzkonform sei.
Mit Hilfe der Cell-Broadcast-Technologie können die Katastrophenschutzbehörden in Deutschland Menschen in einem bestimmten Gebiet informieren, ohne dafür ihre Handynummer kennen zu müssen. Der Versand findet über lokale Funkzellen statt, ähnlich wie beim Radio.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!