Nein, Ihr Kompass wird natürlich auch weiterhin funktionieren und Ihnen den Weg gen Norden weisen. Schließlich geht es hier nicht um den magnetischen Nordpol, sondern um den geographischen Nordpol, den nördlichen Drehpunkt der Erdachse. Dieser Punkt verschiebt sich, das ist der sogenannte Poldrift. Dass dafür bereits Mitte der 1990er Jahre wahrscheinlich der Klimawandel samt schmelzende Gletscher dafür verantwortlich waren, haben nun Forschende in einem im Fachjournal „Geophysical Research Letters“ erschienenen Fachartikel beschrieben.
Die Erdachse auf Wanderschaft – eigentlich ein natürlicher Prozess
Dass die geographischen Pole der Erde nicht wie festgenietet auf der Erdoberfläche verharren, ist schon längst bekannt. Unsere Erdachse kippelt ein wenig, die geographischen Pole sind auf Wanderschaft. Seit weit über hundert Jahren beobachten und vermessen Geodäten diese Verschiebungen. Die Erdachse – und damit auch die Pole, die ja kein festgelegter Punkt auf der Erdoberfläche sind, sondern eigentlich virtuelle Linien – verändert sich, je nachdem, wie die Masse der Erde auf und in ihr verteilt ist.
Es gibt Bewegungen innerhalb der festen Erde, die Atmosphäre spielt dabei eine Rolle, genauso wie die sogenannte Hydrosphäre, die alles Wasser auf der Erde umfasst, beispielsweise Ozeane, Flüsse, aber auch die Gletscher dieser Welt sowie unterirdische Grundwasservorkommen. Bekannte Faktoren, die die Bewegung der Pole beeinflussen sind Winde, Meeresströmungen, Schwankungen im Atmosphärendruck und Veränderungen am Meeresboden.
Geographischer Pol verschiebt sich aufgrund von Massenveränderungen
Seit 2002 können Forscher erstmals die Einflüsse des terrestrischen Wasserhaushalts der Erde sichtbar und vor allem messbar machen: 2002 startete nämlich die Satellitenmission GRACE, die genau wir ihre derzeitig laufende Nachfolgemission GRACE-FO das Schwerefeld der Erde genauestens vermisst. Letztendlich vermessen die Satelliten Massenänderungen auf der Erde und sind somit ein geeignetes Werkzeug, um beispielsweise schmelzende Gletscher oder unterirdische Grundwasservorkommen zu vermessen.
Der Klimawandel verschiebt die Erdachse...
Daher ist es für Forschende tatsächlich keine Überraschung, dass der Klimawandel zu einer Verschiebung der Erdachse führt: Aufgrund des Klimawandels schmelzen die Gletscher dieser Erde - allein in den letzten zwanzig Jahren haben die Gletscher jedes Jahr weltweit 200 bis 300 Gigatonnen Eis verloren. Dadurch verändert sich die Massenverteilung und die Pole verschieben sich. Für den Zeitraum ab 2002 konnten sie dies bereits mithilfe der Daten von GRACE und GRACE-FO nachweisen.
... aber seit wann lässt der Klimawandel den Pol driften?
Aber wie schaut es davor aus, bevor derartige Dinge messbar wurden? Denn auch Mitte der 1990er Jahre vollzog der geographische Nordpol sozusagen einen Richtungswechsel: 1995 änderte er die Richtung seiner Wanderschaft. Statt südwärts wanderte er nun ostwärts. Und die Geschwindigkeit dieses sogenannten Poldrifts von 1995 bis 2020 war um ein 17-faches gegenüber seiner Geschwindigkeit von 1981 bis 1995 erhöht.
In ihrem Fachartikel beschreiben Shanshan Deng von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften und ihre Kollegen ihre Vorgehensweise: Sie modellierten zwei unterschiedliche Szenarien. Im ersten Szenario nahmen sie an, dass die terrestrische Wasserverteilung im gesamten Zeitraum von 1981 bis 2020 derjenigen ähnelt, die seit 2002 tatsächlich gemessen wurde – quasi ein retroaktives „business as usual“. Im zweiten Szenario aber verwendeten sie statt der extrapolierten Daten tatsächliche Beobachtungsdaten von Gletscherschmelzen weltweit.
Schmelzende Gletscher können verschobene Erdpole erklären
Das Ergebnis: Das zweite Szenario konnte den beobachteten Poldrift erklären. Das erste Szenario nicht. Daraus schließen die Forscher, dass es tatsächlich hauptsächlich die Gletscherschmelze und mit ihnen die dadurch veränderte terrestrische Wasserverteilung ist, die den geographischen Pol mit einer durchschnittlichen Rate von 3,26 Millimetern pro Jahr gen Osten treibt, zu 26° östlich. Die Gletscher schmelzen weltweit und verändert daher die Massenverteilung der Erde: in Alaska, Grönland, den südlichen Anden, der Antarktis, dem Kaukasus und dem Mittlere Osten.
Vielleicht sind auch sinkende Grundwasservorkommen teilweise verantwortlich
Ganz alleine kann diese Gletscherschmelze den Polardrift zwar nicht erklären. Ein kleiner Rest bleibt übrig. Die Autoren nehmen an, dass die veränderten Grundwasservorkommen der Erde dafür verantwortlich sein könnten. Es gibt Regionen auf der Erde, beispielsweise Kalifornien, der Mittlere Osten oder das nördliche China, in denen seit Jahrzehnten Grundwasser für Landwirtschaftszwecke nicht nachhaltig entnommen wird. Während aber dies seit 2002 auch dank GRACE und GRACE-FO vermessen werden kann, besteht für den Zeitraum vorher keine Möglichkeit, diese Vorkommen zu rekonstruieren – deshalb bleibt es nur eine Vermutung, wenn auch keine weit hergeholte.
Aber die Studie zeigt, dass der menschenverursachte Klimawandel bereits Mitte der 1990er Jahre Effekte bewirkten, die die Bewegung der Erde selbst beeinflusst. Das war zu einem Zeitpunkt, als die Häufung von Extremwetterereignissen, die uns den Klimawandel auf ungleich dramatischere Weise vor Augen führt, noch in weiter Ferne schien. Der Poldrift aufgrund des Klimawandels hatte und hat keine Auswirkungen auf unser tägliches Leben. Aber dass wir Menschen ein Stück weit für die Verschiebung der Erdachse verantwortlich sind, spricht als Ergebnis für sich.
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