Bildungsstudien kommen immer wieder zu dem Schluss: Die Bildungsungerechtigkeit ist in Deutschland besonders groß. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sieht in Deutschland sogar die Chancengleichheit bei der Bildung gefährdet. Mit einer der Gründe dafür ist ein sehr früher Übertritt von der Grundschule an die weiterführenden Schulen. Dadurch schwindet der Lernwille, soziale Kontakte werden abrupt unterbrochen.
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Mehr Lust am Lernen
Länger miteinander lernen befördert hingegen den sozialen Zusammenhalt unter Schülern und die Lust am Lernen, sagt Sönke Hendrik Matthewes von der Universität Potsdam. Er hat Schulen verglichen, die entweder ab der fünften oder ab der siebten Klasse differenzieren. Das Ergebnis: Die leistungsschwächsten Schüler profitieren deutlich. Sie lernen auch mehr in einem System, in dem länger gemeinsam beschult wird. Leistungsstärkere Schüler werden dagegen nicht benachteiligt.
Blick ins Ausland
Ein früh gliederndes Schulsystem benachteilige vor allem leistungsschwache Kinder, so die Studie des Bildungsforschers. Die Forderung nach einer längeren gemeinsamen Schulzeit von der Bundestagsabgeordneten der Linken aus Bayern, Nicole Gohlke, kann Bildungsforscher Matthewes gut nachvollziehen.
Finnland, Portugal, Frankreich und auch Estland setzen auf eine neunjährige gemeinsame Schulzeit, in Island sind es sogar zehn Jahre. Die Ergebnisse sind positiv: So kommt die Pisa-Studie von 2019 für Estland zum Schluss, dass dort wegen der längeren gemeinsamen Schulzeit mehr Bildungsgerechtigkeit herrscht. Das gilt auch für das inklusive isländische Schulsystem.
Mehr Flexibilität in der Gemeinschaftsschule
In Deutschland, vor allem in Bayern, beharrt man dessen ungeachtet auf vier Jahren Grundschule. Andere Bundesländer wie zum Beispiel Berlin flexibilisieren jedoch den Übertritt: Dort dauert die Grundschulzeit sechs Jahre. Kinder können aber auch schon nach der vierten Klasse auf ein Gymnasium wechseln.
Gemeinsames Lernen müsse nicht gleich auf neun oder zehn Jahre verlängert werden, sagt Matthewes. Er plädiert für sechs Jahre in ganz Deutschland - und für die Gemeinschaftsschule, aus einem weiteren Grund: "So ein System ist aus Effizienzgründen sogar noch besser, weil man nicht eindimensional trennt, also annimmt, dass einer, der gut ist in Mathe, auch unbedingt gut ist in Deutsch. Sondern man trennt fächerspezifisch: Jemand, der gut in Mathe ist, ist im höchsten Leistungskurs und in Deutsch eben nicht. Das wäre aus der Effizienzperspektive deutlich besser."
Man bräuchte auch nicht mehr Lehrkräfte für eine längere gemeinsame Grundschulzeit, betont er. An Mittel- und Realschulen werde in Klasse fünf und sechs oft ähnlicher Stoff vermittelt. Bis zum Jahr 2000 hätten Mittel- und Realschüler in Bayern noch bis zur siebten Klasse gemeinsam im Unterricht gesessen. Nachdem das geändert wurde, seien die Leistungen der Mittelschüler gesunken, so das Ergebnis einer Ifo-Studie kurz nach dieser Änderung.
Kritik an zu früher Weichenstellung
Seit Jahren sorgt der jährliche Kampf um die richtige weiterführende Schule für Konflikte zwischen Eltern und Lehrkräften. Der bayerische Elternverband bemängelt, dass beim Übertritt nur drei Fächer ausschlaggebend sind. Außerdem sei eine so wichtige Weichenstellung im Alter von neun bis zehn Jahren noch viel zu früh, schließt sich der Verband der Forderung von Linken-Politikerin Nicole Gohlke an. Die Kinder müssten länger zusammen lernen können, so wie es an einer Gemeinschaftsschule möglich sei. Genau dafür kämpfen bayerische Initiativen wie der Verein "Eine Schule für alle in Bayern" und das "Bündnis Gemeinschaftsschule in Bayern".
Florian Kohl von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft begrüßt den Vorstoß der Linken, längeres gemeinsames Lernen flächendeckend einzuführen: "Die Heterogenität der Schülerschaft, die Unterschiede, mit denen die Kinder in die Schulen kommen, haben sich in den letzten Jahren immer mehr vergrößert", so Kohl. Man sei der Überzeugung, dass dieses "Übertrittabitur", das sich nur an den zukünftigen Gymnasialkindern orientiere, den heutigen sozialen Gegebenheiten nicht mehr gerecht werde.
Philologenverband hält an frühem Übertritt fest
Florian Kohl, selbst Förderschullehrer, verweist auf zahlreiche Beispiele innovativer Schulen im gesamten Bundesgebiet, die das dreigliedrige Schulsystem aufbrechen. Nicht nur die mittlerweile etablierten Gesamtschulen. Sondern auch erfolgreiche Gemeinschaftsschulen, wie die Alemannenschule in Wutöschingen in Baden-Württemberg mit ihrem "Schmetterlingsprinzip": Realschule, Hauptschule oder Gymnasium existieren dort nicht. Hier gehen alle Kinder bis zum Schulabschluss gemeinsam auf eine Schule. Differenziert wird bei den Anforderungen in den einzelnen Kursen. Dafür erhielt die Schule den Deutschen Schulpreis 2019.
Kritik an diesen neuen Konzepten kommt vor allem von den Philologenverbänden der Bundesländer. So sieht der Bayerische Philologenverband den Übertritt nach der vierten Klasse als alternativlos. Nur so könnten Schüler gemäß ihrer unterschiedlichen Leistungsfähigkeit optimal gefördert werden.
Eine Ausdifferenzierung sei, trotz aller Kritik, ab einem gewissen Alter aber tatsächlich sinnvoll, sagt auch Bildungsforscher Matthewes. Aber erst ab der siebten Klasse. Das hätten seine Forschungen ergeben: "Eine Verlängerung der Grundschulzeit um zwei Jahre wirkt nicht effizienzmindernd. Im Gegenteil, eher effizienzsteigernd, weil die Leistungsschwächsten einfach viel mehr lernen, ohne dass das zu Lasten der leistungsstärkeren Schüler geht. Diese zwei Jahre mehr könnten also gleichzeitig leistungsfördernd und ungleichheitsmindernd wirken."
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