Seitdem China Anfang Dezember von seiner Null-Covid-Strategie abgerückt ist, explodieren die Infektionszahlen in dem Land. Krankenhäuser sind komplett überfüllt, in der Millionenmetropole Shanghai sind Schätzungen zufolge derzeit 70 Prozent der Bevölkerung infiziert, so Chen Erzhen, stellvertretender Leiter des Ruijin-Krankenhauses in Shanghai.
In den vergangenen drei Jahren hat China fast keine Touristen-Visa ausgestellt, Einreisende aus dem Ausland mussten in Quarantäne. Diese Quarantäne fällt am 8. Januar, wodurch Auslandsreisen wieder attraktiv werden.
EU empfiehlt Corona-Testpflicht für China-Einreisende
Daher haben einige Länder weltweit, in Europa unter anderem Frankreich, Spanien und Großbritannien, eine Testpflicht für Einreisende aus China erlassen. Denn die Sorge, dass sich unter so vielen Neuinfektionen neue Corona-Mutationen bilden könnten, die zu neuen Varianten führen, ist groß. Roman Wölfel, Direktor des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr, bestätigt im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk, dass die rasante Ausbreitung in China ideale Bedingungen für die Entstehung neuer Virusvarianten biete.
"Mutationen im Erbgut von Coronaviren können immer dann besonders leicht entstehen, wenn sich das Virus schnell in einer großen Zahl von Menschen vermehren und verbreiten kann." Roman Wölfel, Oberstarzt und Leiter des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr, München
Deshalb müsse seiner Einschätzung nach vor allem in China selbst viel sequenziert werden, also die Viren der Erkrankten auf neue Varianten untersucht werden. Allerdings gehen die chinesischen Behörden sehr spärlich mit detaillierten Informationen und Daten zu den Corona-Infektionen um, teilen nur sehr wenig mit dem Ausland.
Daher werden auch in Deutschland Rufe nach einer einheitlichen EU-weiten Corona-Testpflicht laut - wie von den deutschen Amtsärzten gefordert. Gesundheitsminister Karl Lauterbach sieht dafür noch keinen Grund, plädiert aber für eine gemeinsame europäische Linie und ein verstärktes Varianten-Monitoring.
Am Mittwoch hat die EU beraten, wie mit der Corona-Welle in China weiter umgegangen wird: Herausgekommen ist die Empfehlung einer Testpflicht, sie ist allerdings nicht bindend für die Länder. Die EU-Länder wurden dazu aufgefordert, für alle Reisenden aus China in Richtung Europa vor der Abreise einen negativen Corona-Test vorzuschreiben, der nicht älter als 48 Stunden sein soll. Zusätzlich sollen Reisende aus China bei Ankunft stichprobenartig auf Corona getestet, positive Proben sequenziert werden.
Ausbreitung neuer Virus-Varianten kaum vermeidbar
Was aber ist sinnvoll - aus wissenschaftlicher Sicht? Einige sprechen von einer Testpflicht durch Corona-Schnelltests, andere von Quarantäne, einem flächendeckenden Varianten-Monitoring am Flughafen oder gar von einzelnen Flugzeugen, die in China gestartet sind. Kann man die Ausbreitung neuer Varianten - wenn es sie denn gibt - überhaupt aufhalten?
Nein, sagt Emanuel Wyler: "Wirklich verhindern kann man die Ausbreitung neuer Varianten nicht; nicht mal rabiate Maßnahmen wie die Flugverbote nach Südafrika vor gut einem Jahr haben die damals ganz neue Omikron-Variante gestoppt", so der Molekularbiologe vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin im BR-Interview.
Virologe hält Corona-Testpflicht für Aktionismus
Außerdem könnten selbst mit einer Testpflicht mit Antigen-Schnelltests viele Infektionen durchrutschen - gerade wenn es um die Omikron-Variante geht. Hier gibt es genügend Tests, die erst anschlagen, wenn man bereits ansteckend ist. Darauf weist Oliver Keppler, Virologe der LMU München hin: "Gerade in der Frühphase von COVID-19 verpasst man leider einen Großteil der Infizierten. Das wäre ein virologisch sinnloses Screening und aus meiner Sicht reiner Aktionismus." Auch von einer Quarantäne oder PCR-Tests für Einreisende hält er in der momentanen Phase der Pandemie als fortbestehendes globales Infektionsgeschehen nichts.
Roman Wölfel ergänzt, dass gerade Schnelltests am wenigsten zielführend seien, da sich mit ihnen gar keine Varianten feststellen lassen. Dazu bräuchte es umfangreiche PCR-Tests jedes Einzelnen mit anschließender Genomsequenzierung, um vor allem neue Varianten aufzuspüren, was nur schwer umsetzbar ist. Sinnvoller wäre es, vorbeugend zu agieren, also wenn, dann PCR-Tests vor Abreise durchzuführen und nur negativ in ein Flugzeug zu steigen, so Virologin Ulrike Protzer von der TU München im Gespräch mit dem BR.
Abwasser-Monitoring in Bayern
Gesundheitsminister Lauterbach will daher auf ein nicht näher definiertes Varianten-Monitoring setzen. Hierbei gibt es verschiedene Möglichkeiten: Das kann sich sowohl auf einzelne Flugzeuge, die in China gestartet sind, oder auf den gesamten Flughafen beziehen. In Bayern wird das Abwasser an immer mehr Standorten teilweise schon seit 2021 auf die Menge von SARS-CoV-2-Viren als auch Varianten im Rahmen eines dreistufigen Covid-19-Überwachungs- und Frühwarnsystems untersucht.
Denn mit Abwasseruntersuchungen kann man vorhersagen, wie sich das Infektionsgeschehen entwickeln wird und vor allem, welche neuen Varianten sich ausbreiten. Bereits mit dem Stuhlgang gelangen die Viren ins Abwasser, noch bevor die Betroffenen überhaupt von ihrer Infektion wissen.
"Der Vorteil der Abwasserbeprobung ist die objektive Erfassung der Infektionslage in der Gesamtbevölkerung, das schaffen Sie kaum mit einem individuellen Testprogramm." Umweltingenieur Jörg Drewes, Technische Universität München
Belgien und Österreich: Abwasser aus Flugzeugen aus China
Wie aber kann ein Abwasser-Monitoring aus Flugzeugen funktionieren? Das wurde bereits vor zwei Jahren diskutiert, erklärt Umweltingenieur Jörg Drewes von der TU München im BR24-Interview, der sich schon seit Jahrzehnten mit Abwasser-Monitoring auseinandersetzt. Umgesetzt wurde es am Flughafen Frankfurt am Main, allerdings wird hier die Kläranlage, die den gesamten Flughafen entwässert, beprobt, nicht einzelne Flieger.
Im aktuellen Fall hat Belgien bereits angekündigt, das Abwasser von aus China gelandeten Flugzeugen auf neue Virusvarianten untersuchen zu wollen. Auch Österreich machte eine solche Ankündigung - dabei sollen direkt die Abwassertanks der Flugzeuge analysiert werden. Zusätzlich sollen in Österreich bestimmte Klärwerke häufiger beprobt werden, die in der Nähe von Sehenswürdigkeiten und Orten stehen, die chinesische Touristen gerne aufsuchen.
Umsetzung von Abwasser-Monitoring schwierig
Ein Abwasser-Monitoring von einzelnen Flugzeugen mag einfach klingen und kann laut Virologin Protzer Aufschluss über neue Varianten geben, aber Experten sind sich über die Umsetzung uneins. Abwasser-Experte Drewes sagt, dass es logistisch schwierig ist, das Abwasser von einzelnen Flugzeugen zu entnehmen und zu untersuchen, da die Sanitärfahrzeuge mehrere Flieger abfahren. Zum anderen würde es zwischen 24 und 48 Stunden dauern, bis die Ergebnisse von PCR-Tests vorliegen. Bis dahin haben sich die Eingereisten schon verteilt.
Eine Beprobung des gesamten Flughafens wiederum hält Virologe Keppler für nicht sinnvoll, da man die Ergebnisse dann wiederum nicht mehr einer bestimmten Gruppe an Einreisenden zuordnen kann. Grundsätzlich sieht auch Biologe Wyler gute Chancen eher dann, wenn das Abwasser-Monitoring generell gezielt und flächendeckend ausgebaut wird. Das wäre wissenschaftlich sinnvoll, technisch machbar und finanziell zu stemmen.
Corona-Impfstoffe bei neuen Varianten anpassen
Zu guter Letzt stellt sich die Frage, warum es essentiell ist, frühzeitig neue Varianten zu erkennen. Denn selbst, wenn jetzt eine neue Omikron-Variante aus China nach Europa schwappen sollte und dann etwa im März für eine neue Welle sorgen könnte: Ein erneuter Lockdown wäre praktisch wohl nicht umsetzbar.
Molekularbiologe Wyler nennt zwei Gründe, warum es wichtig ist, diese neuen Varianten zu kennen: Erstens müssten die Impfstoffe angepasst werden. Denn will man sich auf neue Wellen im Herbst/Winter einstellen, bräuchte man bereits etwa im Februar genügend Daten, um angepasste Impfstoffe Ende September auf den Markt bringen zu können - wie das bei der Grippe jährlich der Fall ist.
Neue Varianten: Gefährlichkeit und Immunflucht
"Der zweite Grund ist, dass man die Gefährlichkeit einer neuen Virusvariante einschätzen können muss, damit man weiß, was auf die Bevölkerung und insbesondere die Krankenhäuser zukommt", so Wyler.
Momentan sorgt Omikron - im Gegensatz zu Delta - für verhältnismäßig milde Verläufe, eine neue Variante kann sich aber ganz anders und viel gefährlicher verhalten und zusätzlich noch der Immunantwort ausweichen. Das würde sich auch in den Krankenhauszahlen mit schweren Covid-19-Verläufen widerspiegeln.
Neue Subvariante XBB.1.5 scheint ansteckender, aber nicht gefährlicher
An den Krankenhauszahlen lässt sich beispielsweise ablesen, dass die neue Omikron-BA.2-Subvariante XBB.1.5 nicht wesentlich gefährlicher scheint. Zwar breitet sie sich derzeit massiv im Nordosten der USA aus, die Krankenhausbelegung aber bleibe stabil, erklärt der Biologe.
Virologin Ulrike Protzer glaubt nicht, dass eine neue Variante gefährlicher werden könnte. Vielmehr habe sich das Virus darauf spezialisiert, immer ansteckender zu werden und das könnte sich in der Entwicklung fortsetzen. Denn wer stark erkrankt, bleibt zuhause und steckt keinen mehr an, das Virus könne sich so nicht verbreiten.
Virologe Keppler weist abschließend darauf hin, dass es wichtig ist, jetzt nicht mit dem Finger auf einzelne Länder zu zeigen, die derzeit stark betroffen sind - ob das China oder die USA sind. Das wäre unangemessen. "Man sollte sich immer bewusst sein, dass neue Varianten von SARS-CoV-2 täglich überall auf der Welt, auch bei uns, entstehen und sich von dort ausbreiten können", so Oliver Keppler.
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