Von einer Seltenen Krankheit (Rare Disease) spricht man, wenn höchstens fünf von 10.000 Menschen daran leiden. Weltweit soll es - unterschiedlichen Schätzungen zufolge - zwischen 8.000 und 17.000 Seltene Erkrankungen geben. Die meisten betreffen nur wenige oder einzelne Menschen - zusammengenommen aber sind es viele.
Insgesamt leben hierzulande nach Angaben der Bundesärztekammer (BÄK) schätzungsweise vier Millionen Menschen mit seltenen chronischen Erkrankungen, EU-weit sind es rund 30 Millionen, weltweit sogar 300 Millionen Menschen. "Viele dieser Seltenen Erkrankungen gehen einher mit Invalidität oder verkürzter Lebenserwartung", erklärte Ärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt. Eines der größten Probleme dieser Menschen ist es, an solide Informationen zu ihrer Erkrankung zu kommen.
Seltene Krankheiten betreffen oft Kinder
Rund die Hälfte der Betroffenen sind Kinder und etwa 30 Prozent von ihnen versterben vor ihrem fünften Geburtstag. Zu den Erkrankungen zählen zum Beispiel bestimmte Infektionskrankheiten, Autoimmunkrankheiten oder Krebsformen. Seltene Krankheiten verlaufen oft chronisch, nehmen einen schweren Verlauf und enden oft tödlich.
Viele Patienten mit Seltenen Erkrankungen leiden oft viele Jahre unter unspezifischen Symptomen, bis die Diagnose gestellt und - möglicherweise - eine Therapie gestartet werden kann. Im Durchschnitt braucht es 4,8 Jahre und viele Arztbesuche, bis Betroffene ihrem Leiden einen Namen geben können. Der Weg ist deshalb so langwierig und schwierig, weil erst die Gesamtheit der vielen einzelnen Symptome das Krankheitsbild ergeben. Zudem ähneln sich viele Seltene Erkrankungen.
Viele Erkrankungen sind genetisch bedingt
Und auch nach einer Diagnose warten viele Hürden auf die Patienten. Es ist nicht leicht, Ärzte zu finden, die sich mit einer Seltenen Erkrankung auskennen - zudem sind viele dieser Krankheiten bislang wenig erforscht. Deshalb besteht auch dann, wenn die Ursache der Erkrankung diagnostiziert wurde, häufig keine Aussicht auf Heilung: Für 95 Prozent der Seltenen Erkrankungen gibt es derzeit noch keine Therapiemöglichkeiten: "Wir stehen immer wieder vor der Situation, dass wir Patienten sagen müssen: Wir können ihre Erkrankung derzeit nicht ursächlich behandeln und es wird noch viele Jahre dauern, bis eine Therapie entwickelt sein wird - für manche wird das auch nie der Fall sein", sagt Thomas Klopstock, Neurologe am Klinikum der LMU München, im Rahmen der Konferenz zu Seltenen Erkrankungen in Tutzing Anfang Mai 2023.
Gentherapie - langwieriger Weg zur Therapie
Häufig liegt die Krankheit in den Genen begründet: "Viele von den Seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt und deswegen ist Gentherapie ein extrem wichtiges Querschnittsthema. Wir haben intensiv diskutiert über die Möglichkeiten, aber auch über die Probleme in der Entwicklung", sagt Klopstock. Vor zehn Jahren gab es noch so gut wie gar keine Gentherapie und damit wenig Chance auf Heilung oder zumindest Linderung einer Seltenen Erkrankung. Inzwischen sind für etwa 50 dieser 8.000 Erkrankungen gentherapeutische Ansätze zumindest auf einem guten Weg. Für eine Handvoll sogar schon weitgehend am Ziel: "Am bekanntesten ist die Gentherapie für die Spinale Muskelatrophie, die - wenn man sie frühzeitig anwendet - diesen Kindern, die sonst schwer krank sind und früh sterben, ein weitgehend normales Leben ermöglichen, soweit wir es eben überblicken", sagt Klopstock.
Vernetzung ist wichtig
Eine Diagnose zu stellen, ist schwierig, Therapien gibt es kaum. Umso wichtiger ist der interdisziplinäre Austausch zwischen den Wissenschaften. Seit 2003 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Netzwerke, die Therapiemöglichkeiten suchen für Menschen mit Seltenen Erkrankungen. Elf solcher Verbünde sind es derzeit, die sich eng austauschen - innerhalb Deutschlands wie weltweit. Thomas Klopstock koordiniert diese Zusammenarbeit. Für den Neurologen Holger Lerche von der Uniklinik Tübingen ist dieses Netzwerken der ideale Weg für eine schnelle Entwicklung: "Im Bereich Epilepsie gibt es mehrere Ansätze, mit denen man entweder Gene, die Überfunktion haben, runterreguliert, oder Gene, die eine Unterfunktion haben, hochreguliert. Solche Ansätze sind jetzt auch in den ersten klinischen Anwendungen. Das ist noch nicht in Deutschland, das kommt hauptsächlich aus Amerika, aber wir arbeiten selber an weiteren Ansätze, das zu machen", sagt Holger Lerche von der Uniklinik Tübingen.
Neue Technologien im Kampf gegen Seltene Erkrankungen
Hildegard Büning von der Hannover Medical School arbeitet an sogenannten Gentaxis, die eine Gentherapie in den Menschen bringen und zwar genau zu den richtigen Zellen: "Was sich da in den letzten Jahren mehr und mehr gezeigt hat, ist, dass man viele Anwendungen im Patienten selber macht, also dass man nicht Zellen extrahiert, die im Labor modifiziert und wieder zurück gibt, sondern dass man Vehikel schafft, die in der Lage sind, ihren Weg im Patienten zu finden und ihre Arbeit zu tun", sagt Büning. Und weiter: "Viren haben in der Evolution ja gelernt, gut in die Zellen einzudringen, das wollen wir mit den Gentaxis ja auch. Aber das sind keine Viren mehr, das heißt, wir gucken uns ab, wie Mutter Natur das gemacht hat, und bauen sie dann so um, wie wir das brauchen." Solche virusbasierten Therapieansätze können beispielsweise helfen, eine defekte Proteinproduktion wieder anzukurbeln oder eine Überproduktion runterzuschrauben.
Gentherapie mit der Genschere Crispr Cas9
Ein weiterer Weg ist es, die kranken Gene mithilfe der Genschere Crispr Cas9 direkt gegen gesunde auszutauschen. Der US-amerikanische Kinderarzt Matthew Porteus von der Stanford University School of Medicine forscht daran, um die Sichelzellenkrankheit zu behandeln - eine der am häufigsten vorkommenden genetisch bedingten Krankheiten. Bei der Erkrankung verändern sich die roten Blutzellen und die Patienten versterben früh: Da jeder Patient die gleiche Gen-Variante hat, die die Krankheit auslöst, könne man sich das am Reißbrett gut ausmalen, beschreibt Porteus: Man schneidet das kranke Gen aus der DNA und setzt an die Stelle das gesunde: "Jetzt ist die Frage: Wie bekommt man die Idee vom Reißbrett an den Patienten? Wir sind jetzt in klinischen Studien und haben es mit einem Patienten versucht und gesehen: Manches funktioniert da ganz gut, anderes noch nicht", sagt Porteus. Noch ist nicht geklärt, wie viele kranke Zellen man mit der Genschere behandeln muss und an welchen Stellen im Körper, um insgesamt einen ausreichenden Effekt zu haben. Also geht es für Porteus in die nächste Entwicklungsrunde.
Forschung für Seltene Krankheiten: Fördermittel fehlen
Das ist jedoch nicht selbstverständlich. Viele Projekte im Bereich Gentherapie bleiben stecken, selbst vielversprechende Ansätze, weil Fördermittel fehlen, Pharmakonzerne beim Thema Seltenen Krankheiten keinen Gewinn erwarten oder Regulierungsbehörden auf langwierigen und breiten klinischen Studien bestehen – was bei Seltenen Krankheiten, die noch dazu häufig in der frühen Kindheit auftreten, enorm schwierig ist.
Medikamente zu entwickeln, ist teuer
Gemessen an der Anzahl der Seltenen Erkrankungen gibt es nur wenige Wissenschaftler oder Unternehmen, die an der Erforschung von Ursachen und an der Entwicklung von Behandlungs- oder sogar Heilungsmöglichkeiten arbeiten. Um eine Therapie zu ermöglichen oder zu verbessern, besteht noch viel Nachholbedarf. Eines der Probleme: die Finanzierung. Diagnostik und Entwicklungskosten für Medikamente sind enorm hoch und kosten viele hundert Millionen Euro. Das "rentiert" sich wirtschaftlich für Seltene Erkrankungen nicht.
"Orphan Drugs" - Investition in Medikamenten-Forschung
Um diesem Manko entgegenzuwirken, fördert die EU seit dem Jahr 2000 die Entwicklung von sogenannten Orphan Drugs ("Waisenmedikamente" - also Medikamente gegen Seltene Krankheiten) durch eine Verordnung. Weil ihr Absatzmarkt klein ist, erhalten Pharma-Firmen Sonderkonditionen, wenn sie in die Forschung und Entwicklung von "Waisenmedikamenten" investieren.
Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA entscheidet aufgrund der Häufigkeit einer Krankheit und nach wissenschaftlichen Kriterien, ob ein Projekt zur Entwicklung eines neuen Medikaments den "Orphan-Drug-Status" erhält. Zeigt das Medikament im Zulassungsverfahren einen Zusatznutzen gegenüber bisherigen Therapien, erhält das Unternehmen dafür im Gegenzug die Erlaubnis, das Medikament zehn Jahre lang exklusiv vermarkten zu dürfen.
Informationen im Netz zu Seltenen Erkrankungen
"Gemeinsam für die Seltenen" heißt ein Internet-Portal, das an der Universität Erlangen-Nürnberg entwickelt wurde. Es soll Patienten mit Seltenen Erkrankungen ermöglichen, sich auszutauschen und gemeinsam Lösungen für ihre speziellen Probleme zu finden.
In Deutschland gibt es 35 Zentren für Seltene Erkrankungen, die auch mit den Europäischen Referenznetzwerken vernetzt sind. Im SE-Atlas kann man krankheitsspezifisch nach medizinischen Fach- und Versorgungseinrichtungen suchen (auf Deutsch), ebenso nach Patientenorganisationen.
In der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen ACHSE e.V. unterstützen betroffene Menschen sich gegenseitig. Das Netzwerk bündelt Ressourcen sowie Know-how und verschafft den Seltenen Gehör.
Im Video: Wie lebt es sich mit einer Seltenen Erkrankung?
Tag der Seltenen Erkrankungen
Der Rare Disease Day wurde in Europa und Kanada erstmals am 29. Februar 2008 begangen. Er findet in Schaltjahren bewusst am seltensten Tag eines Jahres, am nur alle vier Jahre vorkommenden Kalendertag, statt. In Nicht-Schaltjahren fällt der Tag der Seltenen Erkrankungen auf den 28. Februar. Mit dem Tag der Seltenen Erkrankungen ist ein internationaler Aktionstag geschaffen worden, um über die Krankheiten zu informieren und zur Verbesserung der Patientenversorgung beizutragen.
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