Olivia gilt als unheilbar krank. Im Alter von 15 Monaten wurde bei ihr eine schwere Stoffwechsel-Störung diagnostiziert. Tay-Sachs nennt sich die Krankheit, die durch einen Gendefekt ausgelöst wird. Die betroffenen Kinder verlieren ihre erlernten geistigen und motorischen Fähigkeiten. Lange wusste niemand, was mit Olivia los ist. Die ersten acht Monate entwickelte sie sich ganz normal.
"Die ganze Welt bricht zusammen" schildert Olivias Mutter, Kristina Kratzer, ihre Gefühle. "So eine ganz komische Mischung aus Angst, Trauer, Verzweiflung und auch so eine richtig extreme Wut, eine Wut auf die ganze Welt irgendwie, weil man sich fragt 'Wieso?' 'Wieso ich, wieso mein Kind?'" Kristina Kratzer erinnert sich an die Zeit, als Olivia kurz davor war, das Krabbeln zu lernen. "Und dann kam der Zeitpunkt, an dem nichts mehr passiert ist. Also sie hat nur noch das getan, was sie schon konnte und irgendwann hat sie aber auch aufgehört das zu tun, was sie schon konnte. Und da ist ihr Höhepunkt erreicht gewesen und dann ging es irgendwann immer nur noch schrittweise bergab."
Betroffene gründen Selbsthilfegruppe
Nur etwa 35 weitere Fälle von Kindern in Deutschland mit dieser Erkrankung sind bekannt. Für die Familie der kleinen Olivia begann eine verzweifelte Suche nach Hilfe. Ein ähnliches Schicksal teilt Familie Quack in Würzburg. Sohn Dario leidet an einer Variante der sehr Seltenen Krankheit. Die Familie gründete vor sieben Jahren die Selbsthilfegruppe 'Hand in Hand'.
"Wir waren auch sehr allein, sehr einsam, weil niemand so das rechte Verständnis hatte", sagt Folker Quack. "Wir haben gesucht und dachten, es muss doch auch andere Familien geben mit dem Schicksal." Die Familie hoffte, sich mit anderen austauschen zu können. Selbst Experten sagten, dass es unwahrscheinlich sei, dass sie jemanden finden würden. Doch die Quacks ließen sich nicht entmutigen. Inzwischen haben sie ein Netzwerk aufgebaut und bringen fast alle betroffenen Familien sowie Experten aus Deutschland jährlich zusammen.
Einer davon ist Markus Oppel. Er arbeitet als Pflegeberater und engagiert sich ehrenamtlich für den Verein. Er hat selbst zwei pflegebedürftige Kinder. Der Familienvater weiß aus eigener Erfahrung, dass betroffene Eltern nicht nur die Pflege ihrer Kinder leisten müssen, sondern oft auch mit der Bürokratie der Krankenkassen beim Thema Pflege kämpfen.
Bürokratie belastet Betroffene zusätzlich
"Bei jeder Kasse sieht jedes Formular anders aus, werden andere Unterlagen gebraucht, andere Kreuze gesetzt und das alles ist für pflegende Eltern neben der Doppelbelastung, Berufstätigkeit, Geschwisterkinder plus Pflegebedürftigkeit des Kindes, des Jugendlichen natürlich wahnsinnig umständlich", sagt Markus Oppel.
Ein weiteres Problem: Die Genehmigung von Hilfsmitteln bei Seltenen Erkrankungen empfinden viele Familien als viel zu bürokratisch. So könnte sich etwa Dario in einem normalen Therapiestuhl bei einem epileptischen Anfall verletzen. Die Quacks beklagen, dass die Krankenkasse die spezielle Situation durch die Seltene Krankheit gar nicht berücksichtigte und den Antrag auf einen zweiten Stuhl erst einmal ablehnte.
"Bei Kindern in Darios Situation ist es oft so, dass eben schon Therapiestühle da sind, die auf dem Papier erstmal die gleiche Funktion haben", berichtet Pflegeberater Markus Oppel. "Und dann hat die Kasse womöglich gemeinsam mit dem medizinischen Dienst das Wirtschaftlichkeitsgebot in den Vordergrund gestellt, keine zwei ähnlichen Hilfsmittel zu verordnen, weil das dann mit den Versicherungsgeldern verschwenderisch umgegangen wäre."
Hoffnung auf neue Therapien: Studie in den USA
Es sind nicht nur frustrierende Erfahrungen, die im Verein ausgetauscht werden, sondern auch ermutigende. So stießen Mitglieder im vergangenen Jahr auf eine experimentelle Gentherapie im Rahmen einer medizinischen Studie – in den USA. Der Verein schaffte es, der kleinen Olivia als erstem Kind aus Deutschland einen Behandlungsplatz in der Studie zu sichern.
"Die Kinder durften für die Therapie nicht älter als 21 Monate sein. Wir mussten ganz schnell handeln und versuchen diese Familie in die Therapie reinzubringen, ohne der Familie zu viel Hoffnungen zu machen", sagt Birgit Hardt, Gründerin des Vereins 'Hand in Hand'. Die Studie in Boston läuft erst seit einem Jahr, doch die Ansätze sind vielversprechend. Das Fortschreiten der Krankheit soll verlangsamt oder gar gestoppt werden. Freude und Anspannung bei Olivias Familie sind groß. Die Behandlungsmethode ist offiziell noch nicht zugelassen, das Ergebnis ungewiss. Flug, Unterkunft und Therapiekosten übernimmt das Pharmaunternehmen hinter der Studie.
Finanzielle Belastungen und hohe Kosten
Trotzdem ist es für die junge Familie eine große finanzielle Belastung. Mutter Kristina ist in Elternzeit. Vater Dario ist Fliesenleger und selbstständig. Vier Monate Boston bedeuten auch vier Monate keine Einnahmen. Zugleich laufen die Kosten für Wohnung, Auto und Versicherungen weiter – das muss die Familie aus eigener Tasche stemmen.
In Boston befinden sich die renommiertesten Kliniken des Landes. Das Gesundheitswesen ist ein großer Wirtschaftsfaktor in der Region. Kurz nach Ankunft der Ankunft erwartete Olivias Familie eine Schreckensnachricht: Das Pharmaunternehmen, das die neue Studie finanziert, hat Insolvenz angemeldet. Für die Eltern ein Schock. "Ich habe erstmal den ganzen Morgen geweint", erinnert sich Olivias Mutter.
Im Zentrum für Seltene Erkrankungen an der Uniklinik Würzburg kennt man das Problem der Finanzierung, besonders wenn kleine Unternehmen an Therapien für Seltene Krankheiten forschen, wie Professor Helge Hebestreit erläutert: "Studien zur Zulassung von Medikamenten bei Seltenen Erkrankungen kosten viele viele Millionen Euro, zum Teil 100 bis 200 Millionen Euro bis das so weit ist, dass das Medikament zugelassen werden kann. Und das sind Beträge, die sich kleinere Betriebe nicht leisten können, wenn sie nicht kontinuierlich unterstützt werden",
Kleine Olivia bekommt Platz in US-Studie
Zum großen Glück für Olivia übernahm das Krankenhaus in Boston kurzerhand alle Kosten. Der notwendige Eingriff an ihrem Gehirn dauerte 10 Stunden. Sie ist das siebte Kind, das diese Therapie erhält, bei der – vereinfacht gesagt – das veränderte Gen durch ein gesundes ersetzt werden soll. Das Forschungsteam um den Österreichischen Neurologen Florian Eichler am General Hospital Massachusetts testet bei der Nachuntersuchung Olivias Reflexe, ihr Hör- und Sehvermögen. "All diese Dinge sind bei Olivia stabil im Vergleich zu dem, was ich vor ein paar Monaten gesehen habe vor der Behandlung. Und jetzt erhoffen wir uns natürlich, dass sie mit diesem neuen gesunden Gen Fortschritte machen kann."
Olivia hat die Operation hinter sich. Wie sich ihr Gehirn entwickelt und ob die Therapie den gewünschten Verlauf nimmt, wird sich erst in den kommenden fünf Jahren zeigen. Solange wird die Familie regelmäßig nach Boston reisen. "Ich glaube, dass wir noch viele Wunder erleben werden mit ihr und auch, wenn es nur so kleine sind", sagt Olivias Mutter. "Ich glaube ganz fest, dass wir noch viele Jahre mit ihr gewonnen haben. Und wenn das wirklich so ist, dann ist das schon die reinste Magie." Bei all der Ungewissheit, ist eines sicher: Schlägt die Therapie bei Olivia an, ist das nicht nur eine Chance für das Mädchen aus der Oberpfalz, sondern für Kinder weltweit.
Wie häufig sind Seltene Erkrankungen?
Nach Informationen des Bundesgesundheitsministeriums gibt es mehr als 6.000 unterschiedliche Seltene Erkrankungen. Dadurch ist die Gesamtzahl der Betroffenen trotz der Seltenheit der einzelnen Erkrankungen hoch. Allein in Deutschland leben Schätzungen zufolge etwa vier Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung.
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