Mehrere BR24-User haben sich wegen eines Sharepics an den #Faktenfuchs gewandt. Inhalt des Bildes ist eine einfache Tabelle, in der die Todeszahlen in Deutschland aus den Jahren 2019 bis 2021 für die Monate Mai bis Juli abgebildet sind. Dabei wird die Jahreszahl 2019 als "ohne Covid-19" gekennzeichnet, das Jahr 2020 als "mit Covid-19" und das Jahr 2021 als "mit Impfung". Darüber hinaus wird auf die Quelle der Zahlen, das Statistische Bundesamt, verwiesen. In einer ähnlichen Variante des Sharepics kursieren diese Zahlen auch als Diagramm.
Auch der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Stefan Homburg, verbreitete das Diagramm-Sharepic. Er leitete bis April 2021 das Institut für Öffentliche Finanzen der Leibniz-Universität Hannover und macht seit dem Beginn der Pandemie Schlagzeilen, indem er sie verharmlost.
Homburg schrieb am 2. September 2021 auf Twitter: "DIES IST KEIN SCHERZ UND KEIN FAKE Die Sterbezahlen sind viel höher als im Vorjahr. Das liegt nicht am Virus: Unter den 76.000 im Juli Verstorbenen waren ganze 233 'Coronatote'. Überlegen Sie bei Ihren Entscheidungen genau, was Sie tun - egal, ob Sie mich mögen oder nicht!"
Der #Faktenfuchs hat das Sharepic im Hinblick auf drei Aspekte überprüft. Erstens, ob die Zahlen korrekt sind. Zweitens, ob die verglichenen Zahlen aussagekräftig für das Pandemiegeschehen sind, wie von den Verbreitern behauptet. Und drittens, wann es in Deutschland 2020 und 2021 ein sogenannte "Übersterblichkeit" gab und ob die aus den Daten des Statistischen Bundesamts ersichtlich wird.
Sterbezahlen - Die Zahlen im Faktencheck
Beide Netz-Fundstücke berufen sich auf die aktuelle Sterbefallstatistik des Statistischen Bundesamts (Destatis).
In dem Sharepic werden die Zahlen vollständig aufgeführt. Sie stimmen mit den Daten des Statistischen Bundesamts übereinein, bis auf drei Ausnahmen: Die Zahlen für Mai, Juni und Juli im Jahr 2021. Hier weichen die Zahlen um 267, 100 bzw. 212 Fälle ab.
Der Grund für die kleinen Abweichungen ist möglicherweise, dass die Tabelle nicht mit den aktuellen Zahlen von Mitte September erstellt wurde. BR24-User haben schon im August berichtet, dass das Bild herumgeschickt wurde. Das Statistische Bundesamt aktualisiert die Zahlen laufend, auf der Webseite sind sie immer auf dem neuesten Stand.
Das Sharepic hat keinen Datumsstempel, es lässt sich also nicht nachvollziehen, wann diese Zahlen abgerufen worden sind.
Hier die Zahlen des Sharepic im Einzelnen:
- Mai 2019 75.669 (stimmt mit Destatis-Zahlen überein)
- Mai 2020 75.823 (stimmt mit Destatis-Zahlen überein)
- Mai 2021 80.184 (Destatis-Zahlen: 80.451)
- Juni 2019 73.483 (stimmt mit Destatis-Zahlen überein)
- Juni 2020 72.159 (stimmt mit Destatis-Zahlen überein)
- Juni 2021 76.046 (Destatis-Zahlen: 76.146)
- Juli 2019 76.926 (stimmt mit Destatis-Zahlen überein)
- Juli 2020 73.795 (stimmt mit Destatis-Zahlen überein)
- Juli 2021 76.035 (Destatis-Zahlen: 75.823)
Zwischenfazit: Die Zahlen des Sharepics stimmen, abgesehen von kleinen Abweichungene bei den Daten von 2021, was mit dem Zeitraum des Abrufs zu tun haben könnte. Die Zahlen stimmen also - doch was sagen sie aus?
Warum der Monatsvergleich nicht aussagekräftig ist
Bei Betrachtung der Zahlen fällt zunächst auf, dass in den jeweiligen Monaten im Jahr 2021 tatsächlich höhere Sterbezahlen erfasst wurden als im Vergleichszeitraum 2020: In allen drei Monaten waren es einige Tausend Fälle mehr.
Im Vergleich zu 2019 (also vor der Pandemie) geht das auseinander: Im Juli 2019 gab es mehr Verstorbene als im Juli 2021. Und im Juni 2019 gab es mehr Verstorbene als im Juni 2020. Welche Aussagekraft hat diese Statistik also?
Der #Faktenfuchs hat beim Statistischen Bundesamt nachgefragt, bei Bettina Sommer. Sie ist Referatsleiterin "Demografische Analysen und Modellrechnungen, natürliche Bevölkerungsbewegungen". Ihr erste Kritik am Sharepic ist, dass dort nur einzelne Monate miteinander verglichen werden: "Ganz generell gesagt, wenn man Monate miteinander vergleicht, da wird man immer gewisse Schwankungen finden. Das ist nicht so, dass die Sterbefälle eines Jahres meinetwegen gegenüber dem Vorjahr zunehmen oder abnehmen und sich das in allen Monaten gleich widerspiegelt. Man hat da immer eine gewisse Bewegung drin."
Viele Faktoren tragen dazu bei, dass die Sterbezahlen der Monate aufeinanderfolgender Jahre unterschiedlich hoch sind. Grundsätzlich könne man davon ausgehen, dass man in Deutschland momentan jedes Jahr im Durchschnitt eine Steigerung der Todeszahlen um ein bis zwei Prozent habe - einfach nur, weil es mehr alte Menschen gibt. Das sagt auch Göran Kauermann, Professor für Statistik am Institut für Statistik der Ludwig-Maximilians-Universität in München im Gespräch mit dem #Faktenfuchs. Wenn man von den Zahlen im Sharepic zwei Prozent dazu zähle, sei man schnell bei einer Erhöhung um mehrere Hundert Fälle, so Kauermann.
Darüber hinaus sei 2020 ein Schaltjahr gewesen - allein das erhöhe die Sterbezahlen des gesamten Jahres um "ein Drittel Prozent", so Kauermann. Das Statistische Bundesamt schätzt, dass es etwa 3.000 mehr Verstorbene im Jahr 2020 nur wegen des Schalttags im Februar gab.
In den Sommermonaten komme es ohnehin häufig zu ausgeprägten Schwankungen, vor allem bei den Todeszahlen innerhalb des älteren Bevölkerungsteils, sagt Kauermann: "In jedem Jahr haben wir sozusagen den Hitzepeak. Die ersten steigenden Temperaturen, also die erste heiße Sommerwoche, führt offensichtlich zu einer höheren Sterblichkeit und die fällt mal in den Mai, mal in den Juni." Auch das könne zu Schwankungen bei den Zahlen führen.
Auch Bettina Sommer erkennt in den Daten, die das Statistische Bundesamt erhebt, diesen Sommerhöhepunkt im Jahr 2021: "Dieses Mal hatten wir eben schon im Juni eine gewisse Hitzeperiode, eine kurze, die bestimmt dazu beigetragen hat, dass die Sterbefallzahlen im Juni 2021 höher waren als im Juni 2020". Und der Juli-Vergleich von 2020 zu 2021 mache "sowieso nur ungefähr drei Prozent mehr aus". Sie hält die Schwankungen für normal.
Vor allem, weil noch ein Ereignis im Juli 2021 die Sterbezahlen-Statistik leicht erhöht hat: Die Todesfälle in den Überflutungsgebieten. "Es waren 180 Fälle ungefähr. Das macht allein in der betroffen Woche 1 Prozent der Fälle aus. Rechnet man aus dem ganzen Monat diese 180 Fälle heraus, dann beträgt die Zunahme gegenüber dem Juli 2020 2,5 Prozent statt 2,8 Prozent."
Zwischenfazit: Die Schwankungen zwischen den Monaten sind unterschiedlich und zum Teil erwartbar. Sie lassen sich unter anderem auf das steigende Alter der Bevölkerung zurückführen.
Wann wir eine Übersterblichkeit in Deutschland hatten
Das Sharepic suggeriert, dass die Corona-Pandemie keine Auswirkungen auf die Todeszahlen gehabt habe. Für die aufgeführten Monate stimmt das auch. Doch die erhöhte Sterblichkeit durch die Pandemie hänge kausal mit den Pandemie-Wellen und Infektionszahlen zusammen, sagen Bettina Sommer und Göran Kauermann. Und die Wellen waren eben nicht in den Monaten Mai bis Juli 2020 beziehungsweise 2021. Darum ein Blick auf das Infektionsgeschehen dieser Jahre:
Die erste Welle hat den Höhepunkt in den Infektionszahlen am 2. April 2020 mit 69,59 Fällen/1 Mio Menschen. Der Höhepunkt der zweiten Welle ist am 23. Dezember - mit 307 Fällen/1 Mio Menschen, also gut das Vierfache an Infektionen. Dann sinken die Infektionszahlen wieder ab, am 14. Februar sind es nur 85,26 Fälle/1 Mio Menschen.
Das ist der Tiefpunkt - aber schon der ist höher als der Höhepunkt der ersten Welle. Das heißt, wenn sich jetzt die dritte Welle aufbaut, kann sie gar nicht niedriger sein als die erste Welle. Am 25. April ist der Höhepunkt bei den Infektionszahlen der dritten Welle erreicht mit 257,40 Fälle/1 Mio Menschen - er ist niedriger als der Höhepunkt der zweiten Welle.
Damit korreliert sind die Höhepunkte bei den Todeszahlen, die das Robert Koch-Institut auch monatsweise auswertet:
- April 2020: 6.069
- Dez 2020: 21.940
- Jan 2020: 21.792
- April 2021: 6.472
Auffällig: Die Zahlen der Verstorbenen an Covid-19 sind im Dezember und Januar sehr viel höher als in den anderen Monaten. Und obwohl die Infektionszahlen im April 2021 sehr viel höher sind als im April 2020, zählt das RKI 2021 sogar weniger Verstorbene an Covid-19.
Für den Zeitraum des Sharepics und der Grafik kommt das RKI auf folgende Zahlen bei den verstorbenen Covid-19-Fällen:
2020
- Mai 2020: 1.576
- Juni 2020: 313
- Juli 2021: 134
2021
- Mai 2021: 4.632
- Juni 2021: 1.038
- Juli 2021: 244
In ihrem Bericht kommt das Statistische Bundesamt auch zum Schluss: "Im April 2020 lagen die Sterbefallzahlen deutlich über dem mittleren Wert (Median) der Vorjahre."
Doch im Winter 2020/21 war die zweite, heftigere Pandemiewelle: Der Höhepunkt der Todeszahlen ist am 13. Januar, mit 10,66 Toten/1 Mio Menschen im 7-Tage-Mittelwert. Danach sinken die Zahlen wieder ab, bis zum 6. April, damals zählt man 1,46 Tote/1 Mio Menschen.
Am 13. April wiederum ist der Höhepunkt der dritten Welle, mit 3,22 Toten / 1 Mio Menschen, deutlich niedriger als noch die zweite Welle, aber höher als die erste.
Ganz ausgeprägt war die Übersterblichkeit um den Jahreswechsel 2020/21, in absoluten Zahlen war der Höhepunkt im Dezember 2020, mit 109.000 Toten. Das waren 32 Prozent über dem mittleren Wert der Vorjahre, so das Statistische Bundesamt. Auch im Januar 2021 waren die Zahlen noch hoch, so Bettina Sommer vom Statistischen Bundesamt. "Dort hatten wir über 106.000 Tote. Das ist schon sehr auffällig gewesen. Das war also auch eindeutig eine hohe Übersterblichkeit." Das entspräche über 25 Prozent mehr Todesfällen als dem Durchschnitt der letzten Jahre.
Dafür sei der übliche Höhepunkt in den Sterbezahlen im März 2021 ausgeblieben, der normalerweise durch die Grippe ausgelöst wird. Doch die Grippewelle blieb im vergangenen Winter aus.
Auch regional könne man während der zweiten Welle eine Übersterblichkeit feststellen, sagt der Statistiker Kauermann, "in Sachsen bis zu teilweise über 100 Prozent Übersterblichkeit".
Welche Rolle die Impfung spielt
Die Rolle der Corona-Impfung für die Sterbezahlen ist nicht so ohne weiteres zu bestimmen. Am deutlichsten sieht man den Impfeffekt aber bei den älteren Geimpften, sagt Göran Kauermann dem #Faktenfuchs. Dazu müsse man die Sterbezahlen nach Altersgruppen aufteilen. Dabei sieht man, dass die Sterberate der Altersgruppe über 80 Jahre deutlich sinkt, und zwar spätestens ab der 10. Kalenderwoche, also ab dem 8. März, und sich seitdem in etwa um den Mittelwert der letzten Jahre bewegt - obwohl die dritte Welle im April wieder zu hohen Infektionsraten führte.
Fazit: Das Sharepic und der Tweet von Stefan Homburg sind irreführend. Die Zahlen an sich stimmen, sagen aber wenig darüber aus, ob sie durch die Corona-Pandemie außergewöhnlich hoch oder niedrig sind. Von Jahr zu Jahr gibt es grundsätzlich Schwankungen, die mehrere Tausend Todesfälle im Monat betragen.
Darüber hinaus decken das Sharepic und der Tweet Monate ab, die kaum oder sogar gar nicht von Infektionswellen betroffen waren. Die zweite Welle hat im Winter 2020/2021 zu einer deutlichen Übersterblichkeit geführt. Und schon im April 2020 kam es im Vergleich zu den Vorjahren zu einer Übersterblichkeit, die aber niedriger war als 2021. Seit Frühjahr 2021 hat sich die Sterberate der über 80-Jährigen wieder dem Durchschnitt der letzten Jahre angepasst.
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