Seit einigen Wochen steigt die 7-Tage-Inzidenz in Deutschland wieder an. Auch im Sommer 2020 waren die Zahlen zunächst niedrig, wuchsen dann langsam und schossen im Herbst in die Höhe. Die zweite Welle war da und konnte erst nach wochenlangen strengen Eindämmungsmaßnahmen gebrochen werden. Viele Menschen fürchten, dass es auch dieses Jahr im Herbst und Winter zu einem Lockdown kommen könnte.
Bedeutung der Inzidenz-Zahlen hat sich geändert
Die Inzidenz-Zahlen haben aber inzwischen eine andere Bedeutung. Wer zu einer Risikogruppe gehört, hat sich meist schon impfen lassen und ist damit geschützt, wenn auch nicht perfekt. Der unmittelbare Zusammenhang, dass zunächst die Inzidenz steigt und sich wenig später die Krankenhäuser bedrohlich mit Covid-19-Patienten füllen, ist daher nicht mehr wie vor einem Jahr gegeben.
Wenn heute die Infektionszahlen stark steigen, heißt das nicht automatisch, dass bald darauf eine Überlastung der Kliniken droht. In Großbritannien etwa liegt die Rate der Klinikeinweisungen bereits um den Faktor sechs bis zehn niedriger als bei den vorangegangenen Wellen.
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Weniger Patienten auf Intensivstation wegen Impfung
Bei gleicher Inzidenz sei nicht zu erwarten, dass genauso viele Patienten auf der Intensivstation landen wie in den ersten drei Wellen der Corona-Pandemie in Deutschland, sagt Christian Karagiannidis, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin. Die 7-Tage-Inzidenz betrachtet er aber weiterhin für wichtig. An diesem Wert sei abzulesen, wie sich das Virus in der Bevölkerung ausbreitet.
Das Robert Koch-Institut (RKI) dagegen hält am 7-Tage-Inzidenz fest. "Eine steigende 7-Tage-Inzidenz (…) bleibt der früheste aller Indikatoren", sagte RKI-Präsident Lothar Wieler. Dem widerspricht der Freiburger Medizinstatistiker Gerd Antes. Er hält diesen Indikator für "früh und falsch. (…) Jetzt weiterhin festzuhalten an diesem Inzidenzwert, der alle Details weglässt, die wir auch wissen, ist aus meiner Sicht inzwischen schon fast grob fahrlässig. (…) Das ist nicht mehr der Steuerwert, den wir brauchen." Auch die Deutsche Krankhausgesellschaft fordert weitere Daten, um die Pandemie beurteilen zu können, etwa die Zahl der Krankenhauseinweisungen, Impfquoten nach Alter, die Belegung der Intensivstationen und die Positivrate bei den Tests.
Das bedeutet: Die Bedeutung der 7-Tage-Inzidenz ist umstritten. Sie ist nicht mehr der zentrale Parameter, der bestimmt, mit welchen Maßnahmen die Pandemie bekämpft wird. Wichtig wird der Wert aber wohl auch im kommenden Herbst und Winter bleiben.
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Grafik: So entwickelt sich die Inzidenz 2021 im Vergleich zu 2020
Modellierungen zeigen, wie die vierte Welle werden könnte
Auch wenn die Bedeutung der 7-Tage-Inzidenz schwindet, gilt weiterhin: Wenn die Infektionszahlen steigen, müssen früher oder später auch wieder mehr Menschen wegen Covid-19 ins Krankenhaus. Eine vierte Welle ist also weiterhin möglich. Wie hoch sie werden kann, zeigen Modellierungen des RKI für Herbst und Winter. Modellierungen sind keine Vorhersagen, sondern mögliche Szenarien, die von verschiedenen Faktoren und Annahmen ausgehen.
Faktoren, die sich und damit das Gesamtbild ändern können, sind zum Beispiel der Einfluss von Virus-Varianten wie der gerade kursierenden, deutlich ansteckenderen Delta-Variante, das Kontaktverhalten und wie viele Menschen bereits geimpft sind, aufgeschlüsselt nach Altersgruppen.
Der Statistiker Helmut Küchenhoff und sein Forschungsteam von der LMU München verfolgen seit Beginn der Pandemie, wie sich deren Kennzahlen entwickeln. In ihrem aktuellen Bericht gehen sie davon aus, dass es keine Wiederholung der Situation Ende 2020 geben wird. Die Impfquote bei Älteren und anderen Risikogruppen führe dazu, dass die Fälle nun andere Altersklassen betreffen. Ein vergleichbarer Effekt war bereits in der dritten Welle zu beobachten.
AHA-Regeln bleiben auch im Herbst wichtig
Die Impfquote ist auch in den Modellierungen des RKI der zentrale Parameter: Je mehr Menschen geimpft sind, desto flacher verläuft die vierte Welle. Auf andere Maßnahmen wie Maske tragen, Hände waschen, Abstand halten und Kontakte reduzieren werden aber auch in den kommenden Monaten wichtig bleiben.
Wie es im Herbst und Winter tatsächlich kommen wird, lässt sich heute noch nicht sagen. "Bei Fortschreibungen, die länger als vier bis fünf Wochen in die Zukunft gehen, sind wir generell sehr skeptisch. Man muss sich nur anschauen, wie viele der Prognosen aus dem vergangenen Jahr sich nicht bewahrheitet haben", sagt Statistiker Helmut Küchenhoff.
Einschränkungen für Ungeimpfte
Die Mehrheit der Menschen in Deutschland ist inzwischen durch eine Impfung gut gegen eine Infektion mit dem Coronavirus und einen schweren Verlauf von Covid-19 geschützt. Deshalb müssen die Maßnahmen zur Eindämmung nicht mehr so streng sein wie vor einem Jahr, auch wenn die Inzidenz-Zahlen steigen.
Völlig aus dem Ruder laufen dürfen die Infektionszahlen aber nicht, sonst könnte es wieder zu einer starken Belastung der Kliniken kommen. Das lässt sich derzeit im Süden der USA beobachten, wo sich die Delta-Variante ausbreitet und wieder viele Menschen wegen Covid-19 ins Krankenhaus müssen, auch Kinder. In so einer Situation wäre tatsächlich wieder ein mehr oder minder strenger Lockdown notwendig, um die Infektionszahlen zu senken.
Söder: Kein Lockdown für Geimpfte
Derzeit sieht es jedoch nicht danach aus. Das bestätigen auch Stimmen aus der Politik: "Einen Lockdown wird es so nicht mehr geben", sagte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder nach der Ministerpräsidenten-Konferenz am 10. August, "auf keinen Fall für Zweitgeimpfte." Der Nachsatz soll sicher diejenigen motivieren, sich impfen zu lassen, die dies bisher noch nicht getan haben, obwohl sie Gelegenheit dazu hatten.
Es gibt aber auch eine große Gruppe in der Bevölkerung, die noch nicht einmal eine Erstimpfung hat, weil es für sie noch keinen zugelassenen Impfstoff oder keine allgemeine Impfempfehlung gibt: Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Bei ihnen kann sich daher das Coronavirus mit hoher Geschwindigkeit ausbreiten, wenn man es lässt.
Sollte die Impfquote im Herbst immer noch zu niedrig sein, um die Ausbreitung des Coronavirus in der Bevölkerung einzudämmen, könnten gerade in Schulen und Kitas wieder Distanz- und Wechselunterricht sowie andere Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung drohen.
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